Die Gerechten
hier.« Er stellte seine Tasche neben den Berg Schuhe und den Kinderwagen neben der Tür und folgte Sandy nach draußen.
Es war nur ein paar Straßen weit bis zur Synagoge. Zweier- und Dreiergruppen von Männern, Freunde oder Väter mit ihren Söhnen, gingen in dieselbe Richtung. Vor dem Gebäude war eine Art Piazza, wie dazu gemacht, Leuten einen Platz zu bieten, wo sie sich treffen konnten. Zwei Treppen führten von dort zum Haus hinunter. Vor der Tür sog ein Mann heftig an einer Zigarette. »Die letzte vor dem Schabbes«, erklärte Sandy lächelnd. Also war für die nächsten vierundzwanzig Stunden auch das Rauchen verboten.
Der Innenraum war das genaue Gegenteil von einer Kirche, fand Will. Er war riesenhaft wie eine Kathedrale, aber der Stil hätte unterschiedlicher nicht sein können. Genau genommen hatte dieser Raum gar keinen Stil; er ähnelte einer High-School-Turnhalle, aber auch hier waren die Wände mit der nachgemachten Holztäfelung versehen – einer Tapete mit Kiefernholzmaserung –, die er auch schon in dem Internetcafé gesehen hatte. Im hinteren Teil, vor einigen Bücherregalen, standen ein paar Reihen Bänke und Tische. Dort waren alle Plätze besetzt, und der Lärmpegel stieg immer weiter an. Will begriff bald, dass dies keine allgemeine Versammlung war, sondern ein Gewirr von mehreren Diskussionen. Paarweise debattierten Männer miteinander, und jeder war über ein hebräisches Buch gebeugt. Sie wiegten sich vor und zurück, ob sie sprachen oder nur zuhörten. Neben ihnen saß ein Zuhörer oder ein weiteres Paar, das ebenso eindringlich diskutierte. Will spitzte die Ohren.
Sie sprachen eine Mischung aus Englisch und einer Sprache, die er für Hebräisch hielt, in einem Singsangton im Takt ihrer wiegenden Bewegungen.
»Was also wollen die Rabonim uns sagen? Wir lernen, dass Haschem, auch wenn wir vielleicht wünschten, wir könnten unaufhörlich studieren, weil dies die größte Mizwa und die höchste Freude ist, die wir je erleben können, tatsächlich aber will, dass wir auch andere Dinge tun: dass wir arbeiten und unseren Lebensunterhalt verdienen.« Bei den letzten Worten senkte sich die Stimme, aber dann stieg sie wieder an. »Warum kann Haschem das wollen? Warum kann Haschem, der doch sicher will, dass wir voller Weisheit und Jiddishkeit sind – warum wird Er nicht wollen, dass wir ständig studieren?« Die Stimme wurde immer höher. »Die Antwort lautet« – und ein erhobener Finger deutete zur Decke und unterstrich, was der Mann zu sagen hatte – »dass wir das Licht nur schätzen können, wenn wir die Dunkelheit erfahren.«
Jetzt war sein Freund, sein Studienpartner, an der Reihe, den Faden aufzunehmen – und den Singsang.
»Mit anderen Worten, um die ganze Schönheit der Thora und des Lernens zu schätzen, müssen wir das Leben abseits des Lernens kennen. So lehrt die Geschichte Noachs jeden Chassiden, dass er nicht sein ganzes Leben in der Jeschiwa verbringen kann, sondern auch alle seine anderen Pflichten erfüllen muss – als Ehemann oder Vater oder was auch immer. Darum ist der Zadik nicht immer der Klügste im Dorf; manchmal ist der wahrhaft gute Mann ein einfacher Schuster oder Schneider, der die Freuden der Thora wirklich kennt und versteht, weil er den Kontrast zu seinem restlichen Leben kennt und versteht. Ein solcher Jude weiß das Licht wahrhaft zu schätzen, weil er die Dunkelheit kennt.«
Will konnte kaum folgen; der Stil des Ganzen war anders als alles, was er je gehört hatte. Vielleicht war es so auch in den Klöstern im Mittelalter gewesen: Mönche, die über Texten brüteten und sich inbrünstig bemühten, das Wort Gottes zu durchdringen. Er wandte sich an Sandy.
»Was studieren sie da? Ich meine, was ist das für ein Buch?«
»In der Jeschiwa , in der religiösen Akademie, studieren die Leute meistens den Talmud.«
Will sah ihn verständnislos an.
»Na, den Kommentar. Rabbiner debattieren darin über die genaue Bedeutung eines jeden Worts in der Thora. Ein Rabbiner oben links auf einer Seite des Talmud streitet mit einem unten rechts über die zwei Dutzend verschiedenen Bedeutungen eines einzelnen Buchstaben in einem einzelnen Wort.«
»Und das ist es, was sie jetzt lesen?« Will deutete auf die beiden Männer, deren Diskussion er verfolgt hatte. Sandy reckte den Hals, um zu sehen, welches Buch sie vor sich liegen hatten.
»Nein, das sind Kommentare, die der Rebbe geschrieben hat.« Der Rebbe, dachte Will. Sogar seine Worte werden so andächtig
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