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Die Gerechten

Die Gerechten

Titel: Die Gerechten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bourne
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sich zu voller Größe auf, um über die Menge hinwegzusehen, die den Thron anstarrte und sich erwartungsvoll heiser brüllte. Sicher würde der Rebbe jetzt jeden Augenblick erscheinen. Aber wie seine Anhänger ihre jetzige Ekstase noch übertreffen sollten, wenn er käme, konnte Will sich nicht vorstellen.
    Der Lärm war ohrenbetäubend. Will wollte Sandy noch etwas fragen, aber er war in dem Gedränge nach vorn geschoben worden. Er war unbehaglich dicht mit einem anderen Mann zusammengezwängt, der ihn anlächelte, erheitert von der plötzlichen Intimität. Was soll’s, dachte Will.
    »Verzeihung, aber können Sie mir sagen, wann der Rebbe kommt? Wann fängt es an?«
    »Wie bitte?«
    »Wann fängt es an?«
    In diesem Moment, und bevor der Mann Gelegenheit zur Antwort hatte, fühlte Will eine schwere Hand auf seiner Schulter, und in seinem Ohr dröhnte ein tiefer Bariton.
    »Für Sie, mein Freund, ist es hier zu Ende.«

16
    FREITAG, 20.20 UHR, CROWN HEIGHTS, BROOKLYN
    Die Hand ließ seine Schulter los, und dafür packten zwei Händepaare seine Arme. Zwei Männer nahmen ihn in die Mitte, beide kaum älter als zwanzig, aber größer und stärker als er. Der eine hatte einen rötlichen Vollbart, der andere nur ein paar spärliche Barthaare am Kinn. Beide blickten stur geradeaus und schoben ihn vorwärts durch die Menge. Will war zu erschrocken, um zu schreien, und es hätte ihn auch niemand gehört. In diesem Trubel würde man drei zusammengedrängte Männer kaum zur Kenntnis nehmen, zumal da zwei von ihnen begeistert sangen.
    Er wurde vom Thron weg nach hinten zu der Bibliothek geführt, wo es etwas weniger eng war. Will war nicht gut im Schätzen – er hatte keine Erfahrung mit der Berichterstattung über Demonstrationen –, aber er vermutete, dass sich inzwischen zwei- oder dreitausend Leute in dem Gebäude versammelt hatten, und alle sangen mit solcher Lautstärke, dass die beiden ihn an Ort und Stelle hätten umbringen können, ohne dass jemand etwas gemerkt hätte.
    Sie führten ihn hinter die Regale und durch einen engen, ausgetretenen Korridor. Der Rotbart öffnete eine Tür, dann noch eine, und schließlich kamen sie in einen Raum, der aussah wie ein kleines Klassenzimmer: Bänke und Tische aus dunklem Holz, Regale mit ledergebundenen Büchern und goldenen hebräischen Schriftzeichen auf dem Rücken. Mit festem Griff drückten sie ihn auf einen steifen Plastikstuhl, der mitten im Raum stand, und legten ihm eine Hand auf beide Schultern, um ihn niederzuhalten.
    »Ich verstehe das nicht«, sagte Will kläglich. »Was geht hier vor? Wer sind Sie?«
    »Warten Sie.«
    »Warum haben Sie mich hergebracht?«
    »Ich habe gesagt, Sie sollen warten. Unser Lehrer wird gleich hier sein. Mit ihm können Sie sprechen.«
    Der Rebbe. Endlich.
    Der Lärm dröhnte noch immer durch das Gebäude. Vielleicht war der Rebbe endlich in der Halle erschienen; vielleicht bearbeitete er die Massen, bevor er herkäme, um Will zu bearbeiten. Der Boden vibrierte wie unter den Bassklängen in einem Nightclub. Aber ob es noch lauter geworden war, als sei der Rebbe erschienen, als Will hinausgeschafft wurde, konnte er nicht sagen.
    »Okay, dann wollen wir anfangen.«
    Wieder die Baritonstimme, wieder hinter ihm. Will wollte sich umdrehen, aber die Hände auf seinen Schultern packten zu und hielten ihn fest.
    »Wie heißen Sie?«
    »Tom Mitchell.«
    »Willkommen, Tom, und einen guten Schabbes. Sagen Sie mir, was verschafft uns das Vergnügen Ihrer Gesellschaft hier in Crown Heights?«
    »Ich will eine Story über die chassidische Gemeinde für die Zeitschrift New York schreiben. Eine neue Kolumne. Sie heißt Farben des Big Apple.«
    »Wie nett. Und warum kommen Sie ausgerechnet an diesem Wochenende?«
    »Ich hab den Auftrag erst diese Woche bekommen. Es war das erste Wochenende, an dem ich konnte.«
    »Sie haben nicht vorher angerufen, nicht vielleicht irgendetwas arrangiert?«
    »Ich wollte mich nur umsehen.«
    »Schauen, wie die Eingeborenen in ihrer natürlichen Umgebung leben?«
    »So würde ich es nicht ausdrücken«, krächzte Will. Der Druck der Hände auf seinen Schultern machte sich bemerkbar. »Ich bin hoffentlich nicht unhöflich, wenn ich frage, warum Sie mich so festhalten?«
    »Wissen Sie, Mr. Mitchell, ich bin froh, dass Sie mir diese Frage stellen, denn ich möchte nicht, dass Sie einen falschen Eindruck von Crown Heights und seinen Bewohnern bekommen. Gäste sind uns hier willkommen, wirklich. Wir laden sie in unsere

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