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Die Gerechten

Die Gerechten

Titel: Die Gerechten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bourne
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als zuvor in seinem Kopf. Es hörte sich an wie die Ausrede eines Schuljungen: Der Hund hat meine Hausaufgaben gefressen. Aber es war die Wahrheit. Natürlich gehörte es sich, dass er Respekt vor der Gemeinde hatte, aber das hier war verrückt. Sie konnten doch nicht so wütend sein, weil er gegen ihre Sabbatgebote verstoßen hatte, oder? Er war fast erleichtert. Wenn das der Vorwurf gegen ihn war, hatte der Rebbe in seinem Notizbuch nichts weiter gefunden.
    »Sie sind kein Jude.«
    »Nein. Das hab ich Shimon – Sandy … Shimon schon gesagt. Ich bin kein Jude, ich bin Reporter.« Verdammt. Jetzt hatte er diesen Fehler schon zum zweiten Mal gemacht – als wären Jude und Reporter zwei Kategorien, die sich gegenseitig ausschlossen. Ob man ihn auch für diesen Fehler bestrafen würde?
    »Also das ist eine Überraschung. Ich muss zugeben, das habe ich nicht erwartet.«
    Will war verblüfft, aber zugleich abgelenkt: Der Rotbart war verschwunden. Wills einziger Bewacher war jetzt dieser Israeli. Er sah jung aus. Das Time Magazine hatte erst vor zwei Wochen einen Artikel über die israelische Armee gebracht. Will erinnerte sich noch halb daran und wusste, dass ein Israeli mit einundzwanzig Jahren schon drei Jahre bei den israelischen Verteidigungsstreitkräften gedient hatte. Der Himmel wusste, was er da alles gelernt hatte. Der Bursche mochte aussehen wie ein halbes Kind, aber es war leicht möglich, dass er Stahl in den Adern hatte. Wieso hätte der Rebbe ihn auch sonst für eine solche Aufgabe aussuchen sollen? Unbestimmt erinnerte er sich an eine andere Information aus demselben Artikel: Viele ultraorthodoxe Achtzehnjährige wurden vom Militärdienst freigestellt, damit sie all ihre Zeit dem Thorastudium widmen konnten. Viele, aber nicht alle: Irgendetwas sagte ihm, dass dieser Mann zu denen gehörte, die das Gebetbuch gegen das Gewehr eingetauscht hatten.
    »Wissen Sie, Mr. Mitchell – darf ich Sie Tom nennen? Ich habe das Gefühl, wir kommen nicht voran. Irgendetwas fehlt mir bei dieser Begegnung.«
    Da war er wieder, dieser sarkastische, weisheitsmüde Unterton – als habe jede Situation etwas Erheiterndes, selbst diese. Will konnte sich kein Bild von diesem Mann machen. Seine Stimme klang warmherzig, ja, beinahe onkelhaft. Trotzdem war die Bedrohlichkeit im Raum mit Händen zu greifen, und ihr Ursprung befand sich hinter ihm.
    »Ich schlage vor, wir ziehen um.«
    Offenbar hatte er irgendein Zeichen gegeben, denn der Israeli legte Will sofort eine Augenbinde an. Sie war anders als beim Blindekuhspiel, wo immer ein bisschen Licht durchdringt: Sie bedeckte die Augen so vollständig, als nähme sie ihnen den Atem. Er wurde wieder vom Stuhl hochgerissen und weggeführt.
    Will nahm sich vor, nicht in Panik zu geraten, nicht dem Gefühl nachzugeben, dass er mit jedem Schritt in dunkle Leere trat und von einer Klippe in den Abgrund stürzte. Er konzentrierte sich auf den Boden unter seinen Füßen, und immer wenn er einen Fuß hob, dachte er daran, wie nah der Boden war. Vielleicht sollte er mit den Füßen scharren und immer Bodenkontakt behalten? Vielleicht war das der Grund, weshalb gefesselte Gefangene immer schlurften: Nicht, weil sie deprimiert waren, sondern weil sie die Bestätigung brauchten, dass die Erde noch da war, gleich unter ihren Füßen.
    Wirklich merkwürdig war das Gefühl der Abhängigkeit von dem Israeli, der seinen Arm schmerzhaft fest umklammert hielt. Will war auf seine Führung angewiesen, und er wusste, er musste jetzt aussehen, wie Blinde immer aussahen, wie Stevie Wonder oder Ray Charles, mit planlosen, durch keinerlei Logik begründeten Kopfbewegungen. Der Mann war sein Bewacher, aber er war jetzt auch sein Beschützer.
    Er spürte, dass sie durch einen weiteren Korridor gingen. Sie entfernten sich weiter vom Getöse der Synagoge, das schon vor einer Weile, wie ihm jetzt bewusst wurde, zu einem lauten Rumoren abgeschwollen war. Er tadelte sich dafür, dass er nicht bemerkt hatte, wann das geschehen war, denn dieses Detail war wichtig, um die Bewegungen des Rebbe nachzuverfolgen.
    Jetzt fühlte er Kälte. Sie waren ins Freie getreten, aber nur für ein paar Schritte. Er hörte das Knarren einer Tür, eines Gartentors vielleicht, und dann änderte sich die Temperatur wieder, als seien sie auf einem umschlossenen Gelände, aber noch nicht wieder in einem Haus. Er hörte ein Echo.
    »Niemand hat das gern, fürchte ich, Mr. Mitchell. Tom. Aber ich werde Sie mir ansehen müssen.«
    In den

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