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Die Gerechten

Die Gerechten

Titel: Die Gerechten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bourne
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studiert wie die Heilige Schrift.
    Während sie sprachen, füllte der Raum sich immer mehr; noch immer kamen viele Leute herein, überwiegend in Gruppen. Manche beteten, aber nicht zusammen. Die eine Gruppe war der hinteren Wand zugewandt, die andere der vorderen. Will war schon einmal in einer Synagoge gewesen – zur Bar Mizwa eines Schulfreundes aber da war es nicht so zugegangen: Es war ein zentraler Gottesdienst gewesen, und einigermaßen still (wenn auch nicht so mucksmäuschenstill wie in einer Kirche). Aber hier schien überhaupt keine Ordnung zu herrschen.
    Und das Merkwürdigste war, er sah nur Männer. Hunderte dieser weißen Hemden und dunklen Anzüge und nirgends ein weiblicher Farbtupfer.
    »Wo sind die Frauen?«
    Sandy deutete hinauf zu einem Balkon, der aussah wie eine Theaterloge, aber dort war niemand zu erkennen, weil ein von außen undurchsichtiges Plastikfenster den Blick versperrte. Man sah nur Umrisse dahinter, Schatten, die durch eine kleine Lücke am unteren Rand der Scheibe deutlicher zu sehen waren. Will fragte sich, ob dieser Spalt zur Belüftung diente. Angestrengt spähte er hinauf und versuchte, Gesichter zu erkennen, aber dann gab er auf: Er begriff, dass er nach Beth gesucht hatte.
    Der Frauenbezirk dort oben bereitete ihm Unbehagen. Er fühlte sich beobachtet – als wären die unsichtbaren Frauen hinter der Scheibe Geister, die dem Treiben der Männer zuschauten. Er stellte sich ihre Perspektive vor: Er musste aus der Menge hervorstechen, der einzige Mann, der nicht in Schwarz und Weiß gekleidet war, sondern Chinos und ein blaues Hemd trug.
    Von nirgendwoher kam plötzlich ein Händeklatschen. Die Männer formierten sich in zwei Reihen, als bildeten sie eine Gasse für eine Prozession. Der Rhythmus des Klatschens wurde schneller, und die Männer fingen an zu singen.
    Jechi HaMelech, Jechi HaMelech.
    Sandy übersetzte es ihm: »Lang lebe der König.«
    Jetzt stampften die Leute mit den Füßen. Manche wiegten sich hin und her, andere sprangen tatsächlich in die Höhe. Das Ganze erinnerte Will an die alten Archivbilder kreischender Mädchen, die auf die Beatles warteten. Aber das hier waren erwachsene Männer, die sich in erwartungsvolle Raserei steigerten. Einer war puterrot im Gesicht, er bewegte sich ruckartig hin und her, steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen lauten Pfiff aus.
    Will betrachtete die Gesichter, die sich vor ihm drängten. Sie sahen nicht alle gleich aus; manche, vermutete er, waren Russen, andere, etwas weniger förmlich gekleidete Männer waren dunkler und sahen aus wie Israelis. Einen Mann mit einem spärlichen Bart hielt er für einen Vietnamesen. Sandy sah, wen er anschaute.
    »Ein Konvertit«, erklärte er mit lauter Stimme, um das Getöse zu übertönen. »Das Judentum ermutigt eigentlich niemanden zum Konvertieren, aber wenn es geschieht, ist der Rebbe sehr entgegenkommend. Sehr viel mehr als die meisten Juden. Er sagt, ein Neuling ist genauso gut wie jemand, der als Jude geboren ist – vielleicht sogar besser, weil er sich dafür entschieden hat, Jude zu sein –«
    Den Rest hörte Will nicht, weil er zwischen zwei Männern nach vorn geschoben wurde. Er war Teil einer großen, vorwärts brandenden Woge – die jetzt, ohne Stichwort oder Befehl, zurückflutete.
    Die Kinder schienen die Richtung zu bestimmen. Mehrere Jungen, die nicht älter als acht Jahre sein konnten, saßen auf den Schultern ihrer Väter und reckten die Fäuste immer wieder in dieselbe Richtung. Sie sahen aus wie minderjährige Fußball-Hooligans, die einen Schiedsrichter beschimpften. Aber sie wandten sich nicht an eine Person, sondern an einen Thron.
    Dieses Wort zumindest kam ihm sofort in den Sinn. Es war ein großer Stuhl, mit dickem roten Samt bedeckt. In einem spartanischen Raum wie diesem stach er als üppiges, luxuriöses Möbelstück hervor. Kein Zweifel – dieser Thron wurde verehrt.
    Jechi Adonenu Morenu v’Rabenu, jichje melech hamoschiach, le’dam. va ’ed.
    Diesen Vers sang die Menge immer wieder, und zwar mit einer Inbrunst, die Will erhebend und zugleich erschreckend fand.
    Er beugte sich zu Sandy hinüber und schrie ihm ins Ohr: »Was bedeutet das?«
    »Lang lebe unser Meister, unser Lehrer, der Rebbe, König Messias in Ewigkeit.«
    Messias. Natürlich. Das war es, was dieses allgegenwärtige Wort bedeutete. Moschiach war »der Messias«. Warum war er so begriffsstutzig gewesen? Für diese Leute war der Rebbe nicht weniger als der Messias.
    Will reckte

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