Die Gerechten
Gerichtsverfahren aus jüngerer Zeit in den USA und in Großbritannien, bei denen E-Mails von Journalisten eine Rolle gespielt hatten. Was würde man mit dieser hier anfangen? Sie enthielt unverhüllte Drohungen und das Angebot, ein Kapitalverbrechen nicht zur Anzeige zu bringen – und das alles von einer Mailadresse der New York Times. Scheiß drauf – etwas anderes konnte er nicht denken. Seine Frau schwebte in größter Gefahr, und da war alles erlaubt. TCs Text traf mit scharfen Worten mitten ins Ziel. Er wollte auf den »Senden«-Button klicken, als ihm etwas auffiel.
»Warum einundzwanzig Uhr? Warum ausgerechnet dann?«
»Weil sie es vielleicht erst lesen, wenn der Sabbat vorbei ist. Sie müssen Gelegenheit haben, zu reagieren.«
Der Irrsinn dieser Situation war im Laufe der Zeit nicht verblasst. Fromme Mörder, die mit Vergnügen töteten, aber Skrupel hatten, vor der erlaubten Stunde einen Computer einzuschalten – das war einfach zu bizarr. TC hatte ihm erklärt, dass der Sabbat am Samstag in einer bestimmten Minute zu Ende ging – nicht zu einem unpräzisen Zeitpunkt wie »bei Sonnenuntergang« oder »wenn es dunkel ist«, sondern um neunzehn Uhr zweiundvierzig. Aber wer keine Uhr hatte, konnte aus dem Fenster sehen, und wenn er drei Sterne erkennen konnte, wusste er, der Sabbat war vorüber, und die normale Arbeitswoche hatte begonnen.
Will hatte keine Ahnung, wie die Chassiden reagieren würden. TC hatte so schnell agiert, und ihr Drang zum Handeln hatte sich nahtlos in seine Wut auf die Kidnapper gefügt, dass er kaum über die Konsequenzen ihres Schreibens nachgedacht hatte. Aber wer wusste schon, wie diese seltsamen, unberechenbaren Leute reagieren würden? Der wütende Trotz der Message würde das Fass vielleicht zum Überlaufen bringen und sie so sehr provozieren, dass sie beschlossen, Beth zu ermorden. Wenn sie es täten, wäre es seine Schuld – weil er einer Laune gefolgt war, die ausgerechnet seiner Exfreundin in den Sinn gekommen war. Eine Sekunde lang stellte er sich die Qualen kommender Jahre vor; er würde lernen müssen, mit einer schweren Schuld zu leben.
Aber was blieb ihm anderes übrig? Fügsamkeit hatte ihn nicht weitergebracht – er wäre fast ertränkt worden, und jetzt wusste er, dass diese Leute nicht zögerten, jemanden umzubringen. Er musste ihre Aufmerksamkeit wecken, musste sie zu der Einsicht zwingen, dass sie für den Mord an Beth bezahlen würden. Ihre E-Mail verriet ihm, dass sie auf sein Schweigen angewiesen waren – und indem sie seine Frau verschonten, konnten sie es erkaufen.
Außerdem tat es gut, sich zu wehren. Er erinnerte sich, wie er sich am Abend zuvor gefühlt hatte, als er vor dem Sabbat mit Sandy in das warme Wasser des Reinigungsbades gestiegen war. Er hatte sich seiner Nacktheit geschämt, seiner Bereitwilligkeit, mit der er sich entkleidet hatte, um sich bei Leuten einzuschmeicheln, die er als seine Feinde hätte bekämpfen sollen. Nun, jetzt war er angezogen und stand aufrecht, und er stellte sich ihnen. Mit dieser Mail kämpfte er um seine Frau und handelte wie ein Mann.
Er klickte auf »Senden«.
»Gut«, sagte TC und drückte seinen Oberschenkel. »Gut gemacht.«
Ihre Begeisterung war ansteckend; Will empfand sie als Erleichterung. Endlich hatte er etwas unternommen.
Er hatte große Lust, sich in einen der geräumigen Sessel des Cafés fallen zu lassen. Er war erschöpft. Aber TC trieb ihn schon wieder zur Eile. Sie war nicht einfach nervös, sah Will – sie hatte sich etwas überlegt. Natürlich : TC befürchtete, die Chassiden könnten Will selbst aufs Korn nehmen. Auch wenn sie anfängliche Zweifel gehabt haben mochte, jetzt war sie davon überzeugt, dass die Männer von Crown Heights nicht mit sich spaßen ließen. Die Nachricht aus Bangkok hatte sie bekehrt.
Als sie das Café verließen, vibrierte Wills Handy in der Tasche. Er wartete, bis sie auf der Straße waren, bevor er auf das Display schaute: Dad privat. Der Ärmste – seit Stunden rief er an, und Will hatte ihm nicht mal eine SMS geschickt.
»Hallo?«
»Oh, Gott sei Dank. Will, ich war außer mir vor Sorge.«
»Mir geht’s gut. Ich bin müde, aber es ist alles okay.«
»Was zum Teufel ist passiert? Am liebsten hätte ich die Polizei angerufen, aber ich wollte erst warten, bis wir wenigstens miteinander gesprochen haben. Es ist eine solche Erleichterung, deine Stimme zu hören.«
»Du hast mit niemandem gesprochen? Dad?«
»Natürlich nicht. Jetzt sag – hast du
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