Die Gerechten
säuberlich auf die linke und die Auflösung auf die rechte Hälfte des Blattes geschrieben hatte, und er sah sie als Schulmädchen vor sich: eine Schülerin, die immer ein ordentliches, wohlgefülltes Mäppchen hatte.
TC kaute auf ihrem Stift und versuchte, das neueste Rätsel mit Blicken zu bezwingen. Will wartete. Er stocherte in seinem Junkfood, kaute an den Fingernägeln, trommelte auf dem Tisch und versuchte, die Zeitung zu lesen, aber er konnte sich nicht konzentrieren. Er hörte, wie nebenan ein Paar miteinander stritt. »Ich glaube dir nicht«, sagte die Frau gerade. Als er diese Worte hörte, riss es ihn fast in seinem Sessel hoch, denn ihm fiel ein Abend im Carnegie Deli ein. Beth hatte einen wunderbaren Satz gesagt, ganz ohne Ironie, auch wenn er versucht hatte, den Moment mit einem Witz zu entspannen. »Ich glaube an dich und mich«, hatte sie gesagt. Plötzlich wünschte er, er hätte damals Beth mit den gleichen Worten geantwortet. Denn es stimmte. Sie war sein Glauben.
Das Handy vibrierte.
Viele Köche verderben den Brei.
Diesmal las er es laut vor. Er kannte die Antwort auf seine nächste Frage, aber er stellte sie trotzdem: »Hast du das erste geknackt? ›Aller guten Dinge sind drei‹?«
»Noch nicht. ›Viele Köche verderben den Brei.‹ Was könnte das bedeuten?« TC schrieb die Worte in eine Ecke zwischen ein paar Notizen.
»Keine Ahnung«, sagte Will, um irgendetwas zu sagen. »Das ist doch kein Zusammenhang mit der ersten Message. Da sollten wir auf etwas Gutes warten, nach zwei schlechten Ereignissen. Warnt er uns jetzt, nicht die Polizei einzuschalten, weil es zu ›viele Köche‹ sind? Oder dass es bei den Chassiden verschiedene Gruppen gibt?«
»Aber was hilft uns das?«
»Ich weiß verdammt nochmal doch auch nicht. Vielleicht will er uns damit etwas sagen. ›Verzettelt euch nichts oder so was. Vielleicht versucht er, uns zu helfen.«
»Nein. Wenn er uns helfen wollte, würde er nicht mit diesen beschissenen Rätseln kommen.«
Das Handy vibrierte. Das Display leuchtete auf: »Eine neue Nachricht.«
Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte.
Kaum hatte Will den Spruch vorgelesen, murmelte TC: »Aller guten Dinge sind drei. Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte. Viele Köche verderben den Brei. Vielleicht meint er mit viele, wir sollen die drei mit der zwei multiplizieren? Könnte sechs etwas bedeuten? Vielleicht müssen wir das ganz anders sehen. Vielleicht sollen wir die Buchstaben als Zahlen verstehen.«
»Wie bitte?«
»Na ja, genau wie die SMS-Nachrichten funktionieren, bloß umgekehrt. Dort sind es Buchstaben und Worte, die aus Zahlen gebildet werden. Möglicherweise ist dies hier das Gegenteil. Wir sollen die Buchstaben als Zahlen verstehen.«
»Ich kapier nicht, was du meinst, TC.«
»Also, wir könnten die Anzahl der Buchstaben in jeder Nachricht zählen. Die Summe könnte was bedeuten. Oder jeder Buchstabe hat einen Zahlenwert. Du weißt schon, A ist eins, B ist zwei.«
Will sah sie ratlos an. Aber TC beachtete seine Verwirrung nicht. In fliegender Eile schrieb sie auf ihrem Block, addierte Zahlenreihen, strich sie aus, errechnete neue Summen.
Vielleicht eine Minute später summte das Telefon wieder.
Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.
Will reagierte gereizter auf jede neue Nachricht. Wenn das eine Hilfe sein sollte, warum musste es dann so undurchsichtig sein? Am liebsten hätte er den jungen Josef Jitzhok beim Kragen gepackt und geschüttelt. Wenn du uns helfen willst, dann hilf uns einfach. »Was soll das sein – eine Sammlung von Gemeinplätzen? Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Was zum Teufel heißt das? Wie um alles in der Welt sollen wir das so schnell lösen?«
»Beruhige dich, Will. Im Moment ist es alles, was wir haben. Er ist alles, was wir haben. Vielleicht ist er jetzt irgendwo, wo er schreiben kann, ohne dass man ihn beobachtet, und er will möglichst rasch alle seine Messages abschicken.«
Das leuchtete ein. Will biss sich auf die Lippe. Er wollte jetzt keinen Streit mit TC anfangen – nicht jetzt, wo sie sich so angestrengt auf ihre Rolle als inoffizielle Kryptographin konzentrierte.
Er ging wieder auf und ab. Fettige Hamburgerdünste drangen ihm in die Poren. In einer Ecke lief ein Fernseher. NY1, der Nachrichtensender im New Yorker Kabel, zeigte Bilder aus Bangkok: »Rabbiner aus Brooklyn wegen Mordverdachts festgenommen.« Der bärtige Verdächtige trug die übliche Kleidung – weißes Hemd, schwarzer
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