Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Jahre später nennen.
Auch Pytheas’ geografisches Wissen muss vor seiner Reise eng begrenzt gewesen sein. Sicher, er ist gebildet und privilegiert, vielleicht ein wohlhabender Bürger, der seinen Forscherdrang selbst finanziert. Und natürlich ist Marseille, damals führende Kolonie der Griechen im westlichen Mittelmeerraum, nicht nur ein wichtiger Handelsort, sondern auch eine exzellente Informationsbörse. In den Tavernen am Hafen treffen Seefahrer und Kaufleute aufeinander, tauschen Nachrichten und Gerüchte aus. Vor allem dank der engen Handelskontakte mit den Kelten gelangen immer wieder Berichte aus dem Inneren des Kontinents ans Mittelmeer.
Und doch sind es hauptsächlich Sagen und Mythen, die das Bild der alten Griechen vom Norden prägen. Zum Beispiel die von den Hyperboreern: Jenseits des Boreas, des Nordwindes, und nahe einem von ewigem Eis bedeckten Gebirge soll das schöngeistige Nordvolk leben, das der griechische Chorlyriker Pindar als eine Art antike Hippiekommune beschreibt. Von Kriegen, Alter und Krankheiten unbeschwert, widmet man sich von morgens bis abends dem Tanz und dem Gesang. Kein Wunder, dass die griechischen Helden hier, wie es heißt, gern Station machen. Herakles etwa soll nach einem Besuch »von den schattigen Quellen der Donau« jene Olivenbäume mitgebracht haben, aus deren Zweigen die Siegerkränze bei den Olympischen Spielen gewunden wurden.
Auch die Herkunft des Bern steins wird mit einer Sage erklärt: In den Eridanos, den ins Nordmeer mündenden Fluss am Ende der Welt, soll einst Phaeton, Sohn des Sonnengottes Helios, mit seines Vaters Sonnenwagen gestürzt sein. Seine Schwestern beweinten ihn am Ufer und wurden zu Pappeln. Seither landen ihre unversieglichen Tränen als Bernstein im Fluss und werden ins Nordmeer gespült.
Das Klima der sagenhaften Randregion stellt man sich freilich eher ungemütlich vor. An der Donau regne und schneie es ständig, schreibt der Historiker Herodot. Und Homer lässt den Helden seiner »Odyssee« bei den kannibalischen Laistrygonen vermutlich nahe der Schwarzmeerküste anlegen, wo die Tage so kurz sind, dass der Hirte, der seine Herde hinaustreibt, schon das Rufen des heimkehrenden Kollegen vernimmt. Auch der Alltag der Kimmerier, eines Reitervolks im heutigen Südrussland, klingt bei ihm wenig erfreulich: »Diese tappen beständig in Nacht und Nebel; und niemals schauet strahlend auf sie der Gott der leuchtenden Sonne …, sondern schreckliche Nacht umhüllt die elenden Menschen.«
So viel feucht-klamme Düsternis muss sich auf den Charakter auswirken, davon war die damalige Gelehrtenwelt überzeugt. Die Skythen, nach griechischer Vorstellung die östlichen Nachbarn der Kelten, hält Herodot denn auch infolge der ständigen Kälte für faul und arbeitsscheu. Auch Aristoteles glaubt, dass im Norden zwar außergewöhnlich mutige, aber ungeschickte und tumbe Leute lebten, Barbaren eben. Die klügsten und edelsten Menschen gibt es nach antiker Vorstellung sowieso nur am Mittelmeer.
Was also treibt Pytheas ins dunkle Sumpfland? Vielleicht ist es dieselbe Sehnsucht, die schon hundert Jahre zuvor in den »Historien« des Herodot durchklingt: »Über die in Europa am weitesten westlich gelegenen Länder vermag ich nichts Genaues zu berichten«, schreibt er. »Auch habe ich trotz aller Bemühungen von niemandem, der dort gewesen wäre, etwas von der Beschaffenheit des Meeres jenseits von Europa erfahren können. Aus diesen entlegensten Gegenden kommen aber das Zinn und der Bernstein zu uns … Die äußersten Länder, die die übrigen umfassen und umschließen, besitzen offenbar das, was uns am schönsten erscheint und was wir am seltensten haben.«
Um 325 vor Christus bricht Pytheas von seinem Heimathafen auf. Wie genau er zur Nordsee gelangt, ist bis heute umstritten; von seinem Reisebericht sind nur Fragmente erhalten. Der britische Archäologe Barry Cunliffe vermutet beispielsweise, dass Pytheas einfach der damaligen Handelsstraße für Zinn gefolgt sei, die über die Flüsse Aude und Garonne zum Atlantik führte. Die meisten anderen Forscher halten jedoch eine Route über die Straße von Gibraltar für wahrscheinlich. Von dort aus dürfte Pytheas immer an der europäischen Küste entlang nach Norden gesegelt sein.
In der heutigen Normandie angelangt, reist er zunächst zu den Zinngruben von Cornwall und dann an Irland vorbei zur Nordspitze Britanniens. Immer wieder geht er an Land, um Messungen vorzunehmen oder einen Eindruck von der
Weitere Kostenlose Bücher