Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
habe er ausstehen müssen, notierte Tacitus für die Nachwelt am Anfang seiner ersten Veröffentlichung, der ehrenden Kurzbiografie seines im Jahr 93 gestorbenen Schwiegervaters. Kaiser Domitians despotisches Regiment habe ihm, wie so vielen seiner Generation, 15 Jahre des Lebens gestohlen, »in denen wir jungen Männer alt geworden sind«. Der zu Schweigen und Duckmäuserei gezwungene Staatsfunktionär konnte erst aufatmen, als im September 96 Kaiser Nerva auf den Thron kam. Während der folgenden anderthalb Jahre amtierte Tacitus einmal sogar kurz als Konsul. In der langen Friedenszeit unter dem Nachfolger Trajan begann er dann seine zweite Laufbahn als Schriftsteller.
Wie konnte Rom seine Vormachtstellung auf Dauer behaupten? Ließ sich aus den bösen Wechselfällen der Politik, dem »Gaukelspiel des Menschendaseins«, wie er es selbst nannte, vielleicht doch etwas lernen? Gab es Aussichten, künftig Herrscherwillkür zu verhindern? Diese Fragen ließen Tacitus zum Historiker werden.
Wohl nur kurz nach der Würdigung Agricolas hatte er sein nächstes Werk fertig, eine knappe Landes- und Völkerkunde Germaniens. Es folgte, in Gesprächsform, eine ähnlich kompakte Erörterung zum Niedergang der Redekunst, die schon geballte Kritik am Kaiserregiment durchklingen ließ. Mehrere Jahre dauerte dann die intensive Arbeit an den »Historien«, die den politischen Horror der Zeit von 69 bis 96 in grausamer Genauigkeit schilderten. Plinius der Jüngere, privat wie im Gerichtssaal ein guter Freund, durfte den Text abschnittsweise gegenlesen. Schließlich, nachdem er noch einmal als Prokonsul die wichtige Provinz Asia (Kleinasien) hatte regieren dürfen, brachte Tacitus seine umfangreichen »Annalen« heraus, ein grandioses Panorama der Periode vom Tod des Augustus im Jahr 14 bis zum Jahr 68. Hauptfiguren der erhaltenen Partien sind die wenig liebenswerten Kaiser Tiberius, Claudius und Nero. Wie das übrige Werk zeigen auch die »Annalen« nach dem Urteil des Althistorikers Joseph Vogt »ausgesprochen stadtrömische Orientierung«.
Was konnte einen geradezu ätzend scharfsichtigen, zwischen Überlegenheit und Selbstkritik schwankenden Zeitdiagnostiker und Meisterstilisten an den Germanen interessieren – abgesehen davon, dass Trajan vom Gouverneur am Rhein zum Kaiser aufgestiegen war und die Region daher bestimmt auf Dauer Beachtung fand?
Auftritte bekommen die wilden Gesellen aus dem Norden, vom Redner-Dialog abgesehen, in allen Werken des Tacitus – meist aber nur als Störenfriede, die man mit militärischer Gewalt im Zaum hält. Für die 46 Kapitelchen kurze Abhandlung »De origine et situ Germanorum« (»Über Herkunft und Wohnsitz der Germanen« – kurz: »Germania«) indessen spielt das Tagesgeschehen kaum eine Rolle. Umso mehr zeigt der Autor Interesse am Wesen der Eingeborenen, die sich so stolz und energisch der römischen Zivilisation entgegenstellen.
»Wilde blaue Augen, rötliches Haar, große, allerdings nur zum Angriff tüchtige Leiber«, gewisse Ausdauer gegen Kälte und Hunger, aber keine Neigung zu »Strapazen und Arbeit«, erst recht Scheu vor »Durst und Hitze«: Die Merkmalliste schon im vierten Kapitel klingt, als kenne der Lateiner keine Skrupel in seiner Abgrenzung von der Barbarenwelt. Sobald es aber um Einzelheiten wie Mut und Gemeinschaftsleben geht, findet Tacitus erstaunlich positive Worte. Ausführlich beschreibt er den urkräftigen Freiheitssinn der Germanen, erwähnt respektvoll ihre Genügsamkeit, eheliche Treue, weibliche Courage und ihren Familiensinn. Ganz offenkundig finden sich bei den potentiellen Gegnern Gemütsqualitäten, die zu kennen noch über strategische Zwecke hinaus lohnt. Dass man es mit Biertrinkern zu tun hat, die gern Gelage veranstalten, hemmungslos faul sein können und sich auch sonst oft allzu menschlich verhalten – beispielsweise im Jähzorn –, all das steigert noch den Eindruck wissenschaftlicher Ausgewogenheit.
Aber schrieb Tacitus die »Germania« wirklich als faktentreuer Ermittler, »sine ira et studio« (ohne Hass und Vorliebe), wie er es sich mit sprichwörtlich gewordener Formulierung am Anfang seiner »Annalen« vorsetzt? Jahrhundertelang haben Philologen und Althistoriker den Text analysiert, doch wozu genau die musterhaft übersichtlich gegliederte Schrift hätte dienen können, weiß letztlich keiner genau. Sicher ist: Tacitus, der selbst nie in Germanien war, verarbeitete für sein Kompendium viele gute – heute leider fast durchweg verlorene
Weitere Kostenlose Bücher