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Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Pötzl
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– Informationsquellen. Neben Regierungsmaterial sowie aktuellen Nachrichten von Augenzeugen zählten dazu vor allem späthellenistische Reiseberichte, die umfangreichen weltkundlichen Materialsammlungen des Universalwissenschaftlers Poseidonios, das ausführliche Standardwerk über die Germanenkriege aus der Feder von Plinius dem Älteren, dem Onkel seines Freundes, aber auch eine Weltkarte, die Augustus’ Schwiegersohn Marcus Vipsanius Agrippa einst hatte erstellen lassen.
    Bis in den geradezu abgezirkelt nüchtern-knappen Stil hinein ist der Ehrgeiz spürbar, etwas Definitives zu schreiben. Eilige Parallelen mindern zwar die Präzision – so bekommt etwa die Mehrzahl der germanischen Götter und Heroen kurzerhand griechisch-römische Namen. Doch solche Tricks waren eine kleine Erleichterung für römische Leser, die sich ja dann im zweiten, regional gegliederten Teil des Büchleins durch einen Wust bizarrer Stammes- und Ortsnamen kämpfen mussten.
    Zwar liegt der Verdacht nahe, Tacitus habe mit dem völkerkundlichen Opus seinen Zeitgenossen einen Spiegel vorhalten wollen. Unverbrauchte, bärenstarke und draufgängerisch-naive Wilde, so versuchten viele Interpreten des Werks nachzuweisen, seien als mahnender Kontrast zu dekadenten, vom imperialen Ränkespiel mürbe gemachten Römern gemeint. Aber die scheinbar plausible Rechnung geht nicht glatt auf. Mehr als nachdenkliches Staunen über die Urwüchsigkeit der Germanen erlaubt sich Tacitus nicht; er sieht sie, mit den Worten des dänischen »Germania«-Spezialisten Allan A. Lund, sogar »fast als Antipoden«. Und an etlichen Punkten bleiben die Formulierungen seltsam vage.
    Berühmt geworden ist etwa der Wunsch des Autors, wenn die Germanen schon nicht die Römer lieben lernen könnten, so sollten sie bitte untereinander entzweit bleiben, da ja nichts so hilfreich für Rom sein könne wie die Uneinigkeit seiner Feinde. Ergänzt wird dieser Stoßseufzer durch den Ausdruck »urgentibus imperii fatis«. Das kann man übersetzen als: »da das Reich jetzt seiner Vollendung entgegeneilt«, ebenso gut aber kann es heißen: »bei allem (übrigen) für das Imperium dräuenden Unheil«. Jedenfalls sieht der kokett orakelnde Moralist die Macht Roms an einem heiklen Punkt angekommen. 210 Jahre schon, »so lange siegt man an Germanien herum«, bilanziert er ein paar Abschnitte später mokant die zähen, nie wirklich glanzvollen Teilerfolge des Imperiums nördlich der Alpen.
    Wer sich auf solch schwieriges Terrain begibt, will mehr bieten als nur Basiswissen für angehende Eroberer. Praktische Ratschläge meidet Tacitus geradezu. Bei den seit langem zumindest namentlich bekannten Stämmen an Rhein und Donau kann er sich ohnehin kurz fassen; umso mehr bemüht er sich, wenig vertraute Völkerschaften zu charakterisieren. Die Semnonen etwa veranstalteten Menschenopfer. Die jungen Männer der Chatten ließen Haar und Bart angeblich wachsen, bis sie ihren ersten Feind getötet hätten – »den Feiglingen und Kriegsuntüchtigen bleibt das struppige Aussehen«. Rugier und Lemovier wiederum zeichneten sich aus durch »runde Schilde, kurze Schwerter und Fügsamkeit gegen die Könige«.
    Für die ferneren Gegenden kippt der schmale Fundus an Merkmalen dann verständlicherweise ins Skurrile: Da sollen zum Beispiel hoch im Norden die infernalischen Nahanarvaler hausen, die mit schwarzen Schilden und schwarzer Körperbemalung vorzugsweise während der Nacht angreifen; bei den Sitonen, anscheinend irgendwo in Skandinavien, sei gar »die Frau Herrin«, so sehr lebten diese Exoten »nicht nur in der Freiheit, sondern auch in der Knechtschaft entartet«. Die Fennen weit im Nordosten schließlich besäßen »nicht Waffen, nicht Pferd, nicht Heim; Nahrung das Gras, Kleidung Felle, Lager der Boden«: Inbegriffe primitivsten Vegetierens, bei denen ein wohlsituierter Römer nur noch erschauern konnte.
    »Wissenschaftlich und künstlerisch«, mit »griechisch erzogenem Auge« und einer typisch hellenistisch »genialen Interessierbarkeit für das Originelle der Welt an sich«, so habe Tacitus sein Porträt von Germanien und dessen Bewohnern gezeichnet, überdies mit dem »Seelenschimmer des verhaltenen Dichters«. So urteilte 1925 der gelehrte Wortkünstler Rudolf Borchardt, der elf Jahre zuvor in einer Neuübersetzung den herben, bedeutungsschwangeren Stil der »Germania« möglichst authentisch nachzubilden versucht hatte. Doch für wen konnte die moralgesättigte, extrem kondensierte Ethnografie

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