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Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Pötzl
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in Form einer Stilübung gedacht sein? Als sie um das Jahr 99 erschien, standen allen, die sich für Germanien interessierten, ausführlichere Handbücher zur Verfügung. Militärs konnten, was sie sonst an Fakten brauchten, schneller und genauer aus Kundschafter-Berichten und eigener Erfahrung zusammenstellen. Blieben eigentlich nur jene Zeitgenossen, die aus allgemeiner Neugier lasen – eine fast verschwindend geringe Zahl.

Schmuckseite aus einer humanistischen Prachthandschrift der »Annalen« des Tacitus (Nationalbibliothek Wien)
    DEAGNOSTINI /GETTY IMAGES

Bestsellerauflagen werden dem Büchlein also wahrscheinlich versagt geblieben sein. Nur selten finden sich in den folgenden Jahrhunderten Anzeichen für eine Lektüre der »Germania«. Die ohnehin stark vereinzelten Tacitus-Leser des hohen Mittelalters wussten dann nicht einmal mehr von seiner Existenz. Dass sich das Werkchen doch erhalten hatte, grenzt an ein Wunder, und seine mühevolle Wiederentdeckung ist eine schöne Detektivgeschichte der Philologie.
    1425 erhielt der Humanist Niccolò Niccoli in Florenz von seinem Freund Francesco Poggio Bracciolini einen Brief. Zu dessen krönendem Abschluss verriet ihm Poggio, ein Mönch aus einem deutschen Kloster habe ihm einige Manuskripte zum Tausch angeboten, darunter »uns unbekannte Werke des Cornelius Tacitus«. Niccoli war elektrisiert. Nicht lange, und er hatte den Titel »De origine et situ Germanorum« in Erfahrung gebracht, dazu die Anfangsworte des Textes und auch, wo die kostbaren Pergament-Faszikel aus der Karolingerzeit lagerten: im Kloster Hersfeld. Dann jedoch war es mit dem Glück vorbei. Suchlisten, die der passionierte Handschriftenjäger reisenden Kardinälen mitgab, blieben ohne Resultat; als Niccoli 1437 starb, schien die heiße Spur wieder verloren. Aber andere ließen nicht locker. Im Jahr 1455 endlich war der Codex auf verschlungenem, bis heute nicht aufgeklärtem Weg nach Rom gelangt; 1458 kaufte der Humanist Enea Silvio Piccolomini, der im selben Jahr als Pius II. zum Papst gewählt wurde, die Blätter der »Germania«. Zum Glück erlaubte der von allem Antiken begeisterte Kirchenfürst sehr bald, dass Abschriften hergestellt wurden. So konnte schon 1470 in Venedig der erste Druck des Werkchens erscheinen.
    Seither haben Altertumsforscher, Linguisten, Archäologen, Geografen, Historiker, Germanisten, Volkskundler und natürlich auch windige Ideologen jede Möglichkeit zu nutzen versucht, die kargen, mitunter kryptisch anmutenden Informationen des Tacitus in ein schlüssiges Bild des damaligen Europa östlich des Rheins und nördlich der Alpen umzusetzen. Einer der Höhepunkte dieser Bemühungen, die mit der Nationalbegeisterung des 19. Jahrhunderts noch gehörig Fahrt aufnahmen, war ein im Jahr 1900 erschienener Band von weit über 700 Seiten, das Vermächtnis des großen Berliner Germanisten Karl Müllenhoff (1818 bis 1884) über die »Germania«. Wort für Wort, Hinweis um Hinweis hatte Müllenhoff alles Erreichbare über die Urbevölkerung auf deutschem Boden zu einem Massiv wilhelminischer Forscher-Akribie angehäuft. Keine Möglichkeit eines volkskundlichen Vergleichs war ungenutzt geblieben, vom Erbrecht »in vielen Staaten Mittel-Africas« bis zum »Allmannsfrieden auf der Insel Gotland«. Am Ende hatte sich die dünne Wäscheleine des taciteischen Textes in eine reich behängte Kulisse großer heroischer Frühzeiten verwandelt.
    Von solch überbordendem Optimismus ist heutigen »Germania«-Interpreten kaum etwas geblieben. Weder die – nur schemenhaft rekonstruierbare – Geografie noch die durchweg römischen Lesegewohnheiten angepassten, nahezu komplett dem Hörensagen entstammenden Detailangaben seien belastbar, warnen die meisten Althistoriker. Andererseits mag niemand von vornherein ausschließen, dass Tacitus – mit den Worten des Kenners Alfons Städele – sozusagen dank höherer Fügung »ein annähernd richtiges Bild des Germaniens seiner Tage entworfen hat«.
    Bedeutsamer als alle Einzelheiten bleibt etwas anderes: Die kleine Ethnografie aus der Werkstatt des altsenatorisch gestrengen Römers hat den weit zerstreuten, schriftlosen Stämmen im Norden Europas endgültig einen unvergleichlich prägnanten Volkscharakter verpasst – gut und gern die wirksamste, aber auch heikelste »Nationalurkunde« (Rudolf Borchardt) der Weltgeschichte.
    Hat Tacitus das gewollt? Im zweiten Kapitel schreibt er, »Germanien« heiße das Gebiet noch nicht sehr lange; erst die einst nach

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