Die Germanin
hob die Hand, um sich bemerkbar zu machen. Sie schwenkte heftig beide Arme, doch spürte sie plötzlich eine Schwäche und musste verschnaufen. Es waren noch knapp zweihundert Schritte. Er winkte abermals, rührte sich aber nicht vom Fleck. Warum kommt er mir nicht entgegen, fragte sie sich, warum stützt er mich nicht? Doch der kurze Schwindelanfall ging rasch vorüber und sie lief weiter.
Hinter Segimund erhob sich ein Zaun und hinter diesem, im heiligen Hain, eine doppelt mannshohe, aus einem einzigen Stamm geschnitzte, verwitterte, schwärzliche Götterfigur. Tiwaz, der alten Kriegsgott, starrte ihr grimmig entgegen und Nelda erschrak einen Augenblick, doch auch das ging vorüber. Sie stürzte auf Segimund zu und warf sich ihm in die Arme.
»Brüderchen! Segimund! Lieber, guter…«
»Schön, dass du gekommen bist, Schwester«, sagte er. »Das war sicher nicht leicht. Ich weiß ja, sie bewachen dich scharf.«
Sie blickte in sein frisches, vertrautes Gesicht. Er lächelte breit, doch sie vermisste den Ausdruck der Freude, die sie selbst empfand. Eher schien es ihr, als sei er verlegen.
»Mach dir nur keine Sorgen«, sagte sie lachend. »Du bringst mich nicht in Schwierigkeiten. Sie bewachen mich nicht, sie beschützen mich nur. Warum siehst du mich so seltsam an? Ja, ich weiß, was du denkst: Sie ist älter geworden und nicht hübscher. Dieser Umhang… Er gehört einer Magd, wir haben getauscht… So war es leichter für mich, hinauszugelangen. Aber sieh einmal hier… Es ist bald so weit! Was sagst du dazu? Diesmal wird es am Leben bleiben, das spüre ich. Ach, unsere Mutter… Es tut mir so leid. Wie starb sie? Erzähle doch! Erzähle doch endlich!«
»Was soll ich erzählen? Sie starb eben. Eines Morgens stand sie nicht auf…«
»Wie traurig! Bald werden auch wir… auch wir sterben. Warum leben wir nur so kurze Zeit?«
Sie warf sich ihm erneut an die Brust und umarmte ihn. Er ließ es in steifer Haltung geschehen und als sie, mit tränenumflorten Augen aufsah, bemerkte sie, dass sein Blick über ihren Kopf hinweg umherschweifte.
»Du denkst, dass sie mich verfolgen?«, sagte sie, wobei sie lächelnd seine Wange streichelte. »Oder fürchtest du, unsere Leute könnten über dich herfallen? Warum denn? Sei unbesorgt, du bist doch kein Feind! Du hast uns doch damals als Freund verlassen. Wie sollte man dir nicht vertrauen. Komm, bind dein Pferd los und lass uns ein bisschen beiseite gehen. Der Gott sieht mich an, als sei er zornig. Warum wohl? Was haben wir denn getan? Wir sind Bruder und Schwester, wir lieben uns. Haben wir kein Recht, uns zu sehen? Ich bin so froh darüber… so froh! Gehen wir dorthin, an den Bach, dort kannst du das Pferd tränken. Und dann erzählst du mir, wie es dir geht, und…«
Sie ergriff seine Hand und wollte ihn fortziehen. Doch da stockte ihr Atem und sie erschrak.
Hinter den Bäumen ringsum traten Männer hervor. Sie gaben sich Zeichen und langsam kamen sie näher. Zwei von ihnen erkannte sie gleich: den Riesen Hauk und den Rotschopf Segithank.
Sie ließ die Hand ihres Bruders los und fuhr heftig herum. Er wandte sich ab, stand reglos, mit hängenden Armen, den Kopf gesenkt.
»Keine Angst, wir tun dir nicht weh«, sagte Segithank mit schmeichelnder Stimme. »Dein Vater schickt uns, er hat Sehnsucht nach dir, hält es nicht mehr ohne dich aus. Mach es uns nicht unnötig schwer. Wir haben sogar eine Sänfte dabei. Wir sind rücksichtsvoll, wissen ja, was mit dir los ist.«
Nelda schrie auf.
Ihre Blicke hetzten von einem zu anderen und suchten die größte Lücke. Dann rannte sie los, zwischen zweien hindurch. Einer erwischte noch den Umhang und riss ihn ihr weg. Drei, vier andere stürzten ihr nach. Sie rannte in den Wald hinein, doch schon nach wenigen Schritten strauchelte sie. Zwei der jungen Kerle halfen ihr auf, packten ihre Arme und schleppten sie zurück.
»Seid nicht so grob zu ihr, sie trägt das Kind des großen Arminius!«, sagte Segithank. Er zwinkerte Nelda vertraulich zu, seine blauen Augen blitzten lustig. »Ich erzähl deinem Vater lieber nicht, dass du abhauen wolltest. Werd ihm berichten, dass du zwar überrascht warst, doch seine Einladung gern angenommen hast. Jetzt müssen wir dich aber erst einmal ein bisschen fesseln und knebeln…«
24
Es war zu Beginn des zweiten Monats ihrer Gefangenschaft, als Nelda wie jeden Tag die grob ausgehauenen Stufen zu der schmalen Felsenplattform hinaufstieg, den einzigen Punkt des Segesteshofes, der
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