Die Germanin
wussten und weder die Mühen des Weges noch die Unbilden des Winters fürchteten. Am Tag nach dem Abschied hatte Nelda die erste Kerbe in einen der Pfosten geschnitten, die das Dach trugen. An dem Tag, als Tauwetter einsetzte, waren es achtunddreißig. Jetzt war es schon die fünfundvierzigste Kerbe, die sie an diesem Abend, der einem zwar noch kalten, aber sonnigen Frühlingstag folgte, ins Holz schnitt. Nach der römischen Zeitrechnung, wie sie ihr seinerzeit von Priscus gelehrt worden war, musste man sich in der Nähe der Nonen oder sogar schon der Iden des März befinden.
Dann stand sie am Tor und blickte den Knechten entgegen, die zum ersten Mal zur Rodung hinausgegangen waren. Sie hatten mehrere Bäume gefällt, deren Wurzeln sie freilich später erst ausgraben würden, denn noch war die Erde gefroren. Mit gebündelten Ästen und Zweigen beladen, stapften die Männer durch den letzten verharschten Schnee die Anhöhe herauf.
Die meisten dieser Knechte waren Gefangene aus dem pannonischen Krieg, sie nannten sich Boier und Azalier, wenn man sie nach ihrer Herkunft fragte. Gewöhnlich blieben sie unter sich und nur wenige waren des Diutisk so weit mächtig, dass sie Befehle verstanden und weitergeben konnten. Sie wurden roh und rücksichtslos behandelt und schon bei geringen Vergehen geprügelt. Nelda hatte Mitleid mit diesen Hoffnungslosen, die nicht alt wurden und ihre Heimat nie wiedersehen würden, mischte Fleischbrocken in ihren Brei und kümmerte sich um sie, wenn sie erkrankten. Kehrten die Männer abends von der Arbeit zurück, stand sie oft am Tor, um zu verhindern, dass die Wächter und die Gefolgsleute, die im Hofe lungerten, unter dem Vorwand, sie hätten zu wenig Holz gebracht, auf sie einschlugen. Ein für allemal hatte Nelda durchgesetzt, dass in ihrer Gegenwart niemand geprügelt wurde.
Mit einem dieser fremdstämmigen Knechte, einem schmalen Bürschlein, nicht viel älter als sie, doch schon grau und krumm, unterhielt sie sich manchmal. Er war klug und konnte sich einigermaßen in der Sprache seiner Herren verständigen. Als er jetzt auf sie zukam, tief gebeugt unter der Last des Holzes, verzog er den Mund, in dem kaum noch Zähne waren, zu einem Lächeln, wie immer, wenn er sie sah.
»Habe ich, Herrin, Botschaft für dich«, sagte er, als er nahe war, »wichtige Botschaft.«
»Eine Botschaft… für mich? Aber wer…?«
Er blieb einen Augenblick stehen und nestelte an dem Strick, der ihm als Gürtel diente.
»Edler Herr ritt vorbei und dies… dies ist für Herrin, sagt er, soll ich geben.«
Er drückte ihr etwas in die Hand, das sie sogleich erkannte.
»Und die Botschaft?«, fragte sie überrascht.
»Kommt edler Herr morgen wieder, wartet auf Herrin an Quelle, bei heiliger Säule. Kommt, wenn Sonne ganz hoch.«
Es war ein Kodex, den ihr der Knecht gegeben hatte. Auf den äußeren Seiten der Täfelchen waren von Kinderhand Tierbilder – ein Hase und ein Vogel – eingeritzt und mit Tinte ausgemalt, die aber ziemlich verblasst war. Solche Kodizes hatten ihr und Segimund, ihrem Bruder, als sie noch Kinder waren, für kleine Mitteilungen in lateinischer Sprache gedient. Es gab keinen Zweifel, wer der Reiter war, der sie treffen wollte.
Auf den Innenseiten des Kodex las sie: »Mutter gestorben. Bin traurig und einsam, würde meine geliebte Schwester gern wiedersehen. Komme morgen noch einmal, werde allein sein und auf dich warten.«
Sie saß auf ihrer Schlafbank, drehte die Täfelchen hin und her, betrachtete versonnen die Zeichnungen. Der Hase stammte wohl von ihr, Hasen waren ihr immer am besten gelungen, Segimund hatte Vögel bevorzugt. Manchmal hatten sie gestritten, ob es besser wäre, einem Hasen oder einem Vogel eine eilige Sendung anzuvertrauen. Sie schloss die Augen und sah sich mit Segimund in der Hütte beim alten Priscus, sah ihre Mutter hereinstürzen, ihr den Griffel aus der Hand reißen und sie schimpfend ins Webhaus zerren. Später kam eine Magd herunter und steckte ihr mit verschmitztem Lächeln einen Hase-und-Vogel-Kodex zu. Und die Mitteilung Segimunds bestand aus drei Worten: »Mutter ist dumm.«
Bei dieser Erinnerung musste sie lachen, doch gleich darauf flossen ihre Tränen. Die Mutter war tot. Nelda hatte sie seit ihrem hastigen Abschied vor über fünf Jahren nicht wiedergesehen. Hatte sie ihre Mutter, diese strenge, verhärmte Frau, die nur Pflichten kannte, geliebt? Sie hatte sich ihrer oft erinnert, gewiss, doch meist nur, wie sie sich eingestehen musste, wenn
Weitere Kostenlose Bücher