Die Germanin
sie sich als Hausherrin fragte, was Frau Male wohl an ihrer Stelle getan hätte. Ihrem Bruder musste der Tod der Mutter sehr nahegegangen sein. Sie hatte ihn als ihren Liebling bevorzugt und ihn oft dem Vater gegenüber verteidigt. Nach seiner Abreise an den Rhenus war sie lange Zeit traurig, verbittert, geradezu unleidlich gewesen. Es musste ein Glück für sie gewesen sein, dass er während ihrer letzten Jahre wieder zu Hause war. Vielleicht war sie es gewesen, die den starrköpfigen Vater dazu gebracht hatte, seinen ungehorsamen Sohn zurückzurufen. Und es war wohl nur durch ihre beharrliche Vermittlung zu einer Aussöhnung zwischen den beiden gekommen. Jetzt fühlte sich Segimund vereinsamt, vielleicht wieder vom Vater ungerecht behandelt, der ihm seinen Verrat an den Römern nach wie vor nicht verzieh. Nelda kannte ihren Bruder gut genug, um seine Lage zu verstehen. Er war ein braver Kerl und konnte sich leicht für eine gerechte Sache begeistern, doch er war nicht selbstbewusst und stark, hatte wenig Ausdauer, und es fehlte ihm das Heil des geborenen Oberhauptes und Anführers. So suchte er Halt und Zuspruch – und wo sollte er beides finden, wenn nicht bei seiner Schwester?
Dabei brauchte sie selbst Halt und Zuspruch. Es ging an die Grenze ihrer Kraft, dass sie sich wieder, wie erst vor wenigen Monaten, morgens beim Erwachen, abends, wenn sie sich niederlegte, hundertmal im Laufe des Tages und einer unruhigen Nacht dieselbe bange Frage stellen musste: Lebt er noch, werde ich ihn je wiedersehen? Die Frist, die ihr Arminius genannt hatte, war verstrichen. Kein Lebenszeichen war in diesen fünfundvierzig Tagen zu ihr gelangt, auch nicht durch Jäger, Hirten oder Bauern, die ihm zufällig begegnet sein konnten. Er war fort und wenn es im Ratschluss der Götter bestimmt war, hatten er und die Männer seiner Begleitung irgendwo unterwegs ein Ende gefunden, sei es durch Raubgesindel, durch wilde Tiere, durch den Sturz in eine Schlucht oder ein Eisloch. Vielleicht hatte sich König Marbod daran erinnert, dass Arminius neun Jahre zuvor eine Einheit der gegen ihn anrückenden römischen Streitmacht geführt hatte und ihn als Feind behandelt. Würde sie jemals erfahren, was aus dem Vater des Kindes, das in ihr wuchs, geworden war?
Und was sollte aus ihr selbst und ihrem Kind werden? Seit die Wege von Eis und Schnee frei waren, trafen in kurzen Abständen Boten mit furchterregenden Nachrichten ein, diesmal auch aus den Gauen der Chatten. Im Taunusgebirge, berichteten sie, hätten die Römer ein neues Kastell auf den Trümmern eines alten errichtet und zögen dort Truppenmassen zusammen. Von der Grenze zu den Marsern wurden ebenfalls römische Truppenbewegungen gemeldet. Die Stammesführer der Nachbarschaft waren erneut zusammengekommen, um Kriegsrat zu halten. Und abermals zögerten sie, waren uneins und warteten auf ihren Heerführer. Der aber kam nicht.
Wenn schon alles zu Ende gehen soll, dachte Nelda, werde ich vorher wenigstens noch einmal meinen Bruder sehen, einen der wenigen Menschen, die ich liebe und die immer gut zu mir waren. Segimund wollte also, wie es der junge Knecht verstanden hatte, am nächsten Tag, wenn die Sonne im Zenit stand, am Rande des heiligen Hains auf sie warten. Sie war entschlossen, ihn dort treffen – aber wie sollte sie dorthin gelangen? Arminius hatte ihr streng untersagt, den Wehrhof zu verlassen. Den Wachen war unter Androhung von Strafe befohlen, sie am Tor aufzuhalten, falls sie leichtfertig einen Ausflug riskieren sollte. Und selbst wenn es ihr gelänge, das Tor zu passieren, würde sie auf dem kahlen Gelände rings um den Wehrhof den Augen der Männer auf den vier Wachtürmen nicht entgehen. Es war auch aussichtslos, den von Arminius vorübergehend als Herrn eingesetzten Inguiomer um Erlaubnis zu bitten. Der alte Polterer war ihr zwar wohlgesinnt, doch würde auch er sich strikt an die Weisung seines Neffen halten. Würde sie ihm sagen, dass ihr Bruder auf sie wartete, musste sie sogar damit rechnen, dass er ihm auflauerte und ihn festnahm. Segimund gehörte ja nun wieder zum Gefolge seines Vaters, des von Inguiomer glühend gehassten »Römlings« Segestes.
Die Nacht verging und sie fand kaum Ruhe. Nach kurzem Schlummer erwachte sie immer wieder und dachte darüber nach, wie sie für kurze Zeit aus dem Herrenhof entwischen könnte. Eine abenteuerliche Möglichkeit fiel ihr ein und in aller Frühe erhob sie sich, um in eines der halb unterirdisch angelegten Vorratshäuser
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