Die Germanin
bereits bekannt, Arminius wusste, dass sein Gegner Germanicus schon bis an die Adrana gekommen war, an die südliche Grenze des Stammesgebiets der Cherusker. Wenn es Segestes gelang, seinen Wehrhof zu verlassen, würde er seine Tochter mitschleppen. Die Frau ihres schlimmsten Feindes – was für ein Fang würde das für die Römer sein!
Aber Segestes hütete sich, einen Ausfall zu wagen. Er hatte Legionen erwartet, die er als Freunde empfangen wollte. Stattdessen kamen Stammeskrieger der Cherusker als Feinde. Dies geschah so unerwartet, dass er es sich nur mit einer unverhofften Wendung des Krieges erklären konnte. Er war vorsichtig und erinnerte sich sehr gut daran, wie die Erfolge der Freiheitskämpfer vor sechs Jahren auf seine eigenen Leute gewirkt hatten. Also wartete er ab. Bei einem kurzen Wortgefecht mit Tammo am Haupttor des Wehrhofes erfuhr er, dass Arminius nicht unter den Belagerern, sondern irgendwo in Kämpfe verwickelt war. Er hatte auch bald herausgefunden, dass Tammos Haufen bei weitem nicht stark genug waren, um einen Angriff zu wagen. Selbstverständlich wies er die Aufforderung, sich endlich dem Widerstand gegen die Römer anzuschließen, ebenso höhnisch zurück wie das Ansinnen, den wilden Kriegern draußen vor dem Wall seine Tochter auszuliefern.
Den Belagerern war es zu seiner Befriedigung nicht gelungen, den geheimen Ausgang zu versperren, den sein Wehrhof besaß. Da eine Seite des Hügels von einer steilen Wand und bizarren, zerklüfteten Felsen gebildet wurde, gingen die Wehranlagen an mehreren Stellen in natürliche Hindernisse über, die noch schwerer zu übersteigen und noch besser zu verteidigen waren als Wälle und Zäune. Unter und zwischen diesen gewaltigen Brocken gab es, mal steil, mal sanft abfallend, ein Labyrinth von Gängen, Nischen und Treppen, teilweise künstlich angelegt und von Gestrüpp überwuchert, das am Fuße des Hügels, auf der dem Tor gegenüberliegenden Seite, in einem verborgenen Felsspalt endete. Auf diesem Wege verließen die Gesandten, die Segestes dem römischen Feldherrn schickte, den Hof.
Er hatte seine Gefolgschaft zusammengerufen und gefragt, wer bereit war, diese gefahrvolle und höchst dringliche Mission zu übernehmen. Als Erster trat zu seiner Überraschung sein Sohn vor. Segestes machte Einwände, weil Segimund den Römern nicht gerade vertrauenswürdig erscheinen mochte. Vor allem aber war zu befürchten, dass sie ihn festnehmen und vielleicht sogar auf der Stelle verurteilen würden. Doch Segimund versicherte hartnäckig, dass gerade seine Bereitschaft, Strafe auf sich zu nehmen, Germanicus von seiner aufrichtigen Gesinnung überzeugen werde. Er verschwieg allerdings, was ihn wirklich bewegte. Seine Schwester verachtete ihn umso mehr, als er ihr gestanden hatte, durch die Mittäterschaft an ihrer Entführung den drohenden Widrigkeiten entgehen zu können. Er ertrug nicht, dass der einzige Mensch, den er liebte, ihn für einen schwächlichen, schäbigen Kerl hielt. So wollte er ihr – nur ihr – beweisen, dass er nicht feige war und für alles, was er getan hatte, einstehen würde. Segestes war schließlich einverstanden. Er sagte sich, dass es von Vorteil sein konnte, wenn sich sein Sohn, unter seinem Einfluss von der vorübergehenden Verirrung geheilt, den Römern reumütig stellte. Im Übrigen sprach Segimund fließend Latein und konnte dem Feldherrn einen ausführlichen Lagebericht geben.
Als sich auch Segithank und Hauk meldeten, holten sie sich allerdings eine Abfuhr. Drei junge Männer, die keine Abenteurer und aus Überzeugung römisch gesinnt waren, begleiteten Segimund. Einer von ihnen war der Sohn eines wohlhabenden Bauern aus der Nachbarschaft, bei dem sie sich nach einem kurzen Fußmarsch mit Pferden versorgen würden. In den frühen Morgenstunden des zweiten Tages der Belagerung, krochen die vier aus dem Felsspalt, schlüpften zwischen zwei Zelten der Belagerer hindurch und rannten davon, indem sie dieselbe Richtung wie die Sonne nahmen. Ihr Auftrag: über die Adrana zu gehen, dem Germanicus, der nach seinem Sieg noch im Land der Chatten vermutet wurde, die Gewalttätigkeiten zu schildern, denen sein treuer Verbündeter ausgesetzt war, und um Entsatz zu bitten.
Für Nelda begannen Tage des Wartens, Hoffens und einer verschärften Gefangenschaft. Zu ihrem Lieblingsplatz auf der Felsenplattform durfte sie nicht mehr hinaufsteigen. Die freie Bewegung innerhalb des Herrenhofes, die ihr vorher erlaubt war, wurde eingeschränkt.
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