Die Germanin
Außergewöhnliches vorging, und ihr Herz klopfte heftig, als der Wortwechsel am Wall begann und sie die Stimme ihres Geliebten vernahm. Sie konnte nicht verstehen, was er rief, auch nicht, was ihr Vater entgegnete, aber der schroffe Tonfall der Erwiderungen des Letzteren sagte ihr alles. Einmal sprang sie auf, wollte hinausstürzen und sich bemerkbar machen, aber schon auf der zweiten Stufe der kurzen Treppe wurde sie links und rechts gepackt und zurückgerissen. Als sie später von ihrem Vater Auskunft verlangte, erwiderte er nur kurz angebunden, sie solle vernünftig sein, abwarten und ihm vertrauen.
Am nächsten Morgen war er wie umgewandelt und verkündete allen in gehobener Stimmung, dass die Römer, von Germanicus selbst angeführt, nur noch zwei Tagemärsche entfernt seien. Vom alten Brun, den sie in der allgemeinen Verwirrung sprechen konnte, erfuhr Nelda, dass ihr Bruder mit drei anderen hinausgelangt war und den römischen Feldherrn von der Belagerung des Segesteshofes unterrichtet hatte. In der Frühe war einer der drei mit der Nachricht vom Herannahen der Legionen und der Aufforderung, sich auf keinen Fall den Belagerern zu ergeben, zurückgekehrt.
»Nun werden wir wohl alle in Gefangenschaft geraten«, klagte der Alte. »Deinen Bruder haben sie gleich festgenommen und über den Rhenus gebracht.«
»Warum war er denn auch so leichtsinnig!«, erwiderte Nelda schroff. »Warum musste er sich ihnen ausliefern?«
»Ich glaube, er wollte beweisen, dass er Mut hat und nicht der Jämmerling ist, für den du ihn hältst.«
»Was hätte ich schon von seinem Mut? Wenn du recht behältst, Onkel, trägt er mir eine noch härtere Gefangenschaft ein.«
Am nächsten Tag gab es neue Aufregung. Die Wache auf der Felsplattform meldete, dass unten im Tal Verstärkung für die Belagerer heranzog. Segestes brüllte Befehle und alle Männer, auch die Alten und die kaum dem Kindesalter entwachsenen Jünglinge, mussten sich bewaffnen und rings um den Wall und auf den von außen kaum zugänglichen Felsen postieren. Tagsüber blieb es jedoch ruhig, nachts wurden die Wachen verstärkt.
Nelda tat in dieser Nacht kaum ein Auge zu. Ramis hatte ihr zugeflüstert, dass die Wächter Arminius im Tal erspäht hatten, wie er zwischen den Zelten und Hütten und den Heerhaufen, die sich unten formierten, hin und her ritt. Sie wälzte sich schweißgebadet auf ihrer Schlafmatte und versuchte immer wieder ruhig zu atmen und ihre Erregung zu bezähmen. Sie wollte sich nicht von Angst überwältigen lassen und in Panik geraten. Doch jeden Augenblick konnte der Kampf beginnen, es würde Tote und Verwundete geben, Blut würde fließen, vielleicht auch sein Blut, Bilder des Schreckens würden auf sie einstürmen. Und vielleicht würde sie dann auch dieses Kind, das sie mit so viel Liebe und Sehnsucht erwartete, verlieren.
Während der Nacht geschah nichts und auch in den ersten Morgenstunden blieb es ruhig. Nelda wurde von den beiden bärbeißigen Mägden wieder in ihr Gefängnis, das Webhaus, geführt. Dort hörte sie, wie es auf dem Hof plötzlich lebendig wurde. »Die Römer!«, wurde gerufen. »Am Tor?«
»Nein, unten im Tal!« Eine der Mägde eilte neugierig hinaus und kam nicht zurück. Die andere stieg die kurze Treppe hinauf und lauerte an der Tür. Einen Augenblick war sie abgelenkt, weil ihr jemand etwas zuschrie. Das nutzte Nelda und schlüpfte an ihr vorbei.
Sie versteckte sich hinter dem einzigen Mauerstück, das von der Bauruine des Herrenhauses im römischen Stil noch übrig war. Von hier aus sah sie, wie sich viele Bewohner des Wehrhofs an der Treppe sammelten, die zu der Ausguckplattform hinaufführte. Männer drängten sich rücksichtslos durch die Menge, um nach oben zu gelangen. Von dort wurde ständig irgendetwas gerufen, das die unten Stehenden mit wilden Gebärden weitergaben. Nelda wagte nicht, sich der Ansammlung zu nähern, weil sie fürchtete, von ihren Aufpasserinnen entdeckt zu werden. Endlich gelang es ihr, einen der Knechte, die nicht arbeiteten und abwartend herumstanden, auf sich aufmerksam zu machen.
»Was ist da los?«, rief sie ihm entgegen, als er herbeischlurfte. »Sind die Römer gekommen?«
»Sie sind gekommen, Herrin«, sagte der Mann, »und haben die Unseren angegriffen.«
»Die Unseren?«
»Die Cherusker da draußen, die Belagerer. Für die steht es schlecht. Hier oben sind schon keine mehr. Und unten weichen sie zurück.«
»Heißt das… heißt das…«
»Die sind geschlagen. Sind viel zu
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