Die Germanin
wenige. Wie sollten sie sich auch halten können? Die werden elend zusammengehauen. Die Römer sind mindestens dreimal, viermal so viele, heißt es.«
Nelda spürte, wie sie am ganzen Körper zu zittern begann. Sie hielt sich gerade noch auf den Beinen, bis der Knecht sich abgewandt hatte. Dann sank sie, den Rücken an der Mauer, langsam ins Gras. Halb lag, halb saß sie und starrte verzweifelt mit weit geöffneten Augen zum Himmel hinauf, in die grell und grausam scheinende Sonne, so lange bis der stechende Schmerz unerträglich war. Da verdunkelte sich die Welt, auch ihr Kopf sank ins Gras, sie wurde ohnmächtig.
Sie kam wieder zu sich, als sie geschüttelt und hochgezerrt wurde. Die beiden Mägde hatten sie endlich entdeckt. Während die eine sie aufrecht hielt, flößte die andere ihr Wasser ein. Dabei grummelten sie Vorwürfe. Der Herr sei schon wütend, er suche sie, sagte eine, während sie ihr mit einem Kamm durch das wirre Haar fuhr. Dann wurde sie von den beiden unter den Armen gepackt und über den Hof geführt. Ihr Blick war noch immer getrübt und sie nahm nur undeutlich rennende, hastende, schreiende Menschen wahr. Sie mussten ausweichen, weil Pferde vorüber geführt wurden.
Jäh stand ihr Vater vor ihr.
»Wo warst du?«, fuhr er sie an. »Wolltest du dich verstecken? Wie siehst du aus? Wasch dich, zieh dir ein Festkleid an! Du musst dich bereithalten. Germanicus wird noch heute heraufkommen. Wir wollen unseren Befreier würdig empfangen!«
Sie ließ alles über sich ergehen. Ein ganzer Schwarm von Mägden wurde ihr zugeteilt, um sie herzurichten. Sie entkleideten sie, schleppten in großen Holzeimern Wasser herbei und gossen es über ihr aus. Sie streiften ihr eines der schon bei ihrer Ankunft für sie bereit gehaltenen feinen Leinengewänder über, das einem griechischen Peplos glich. Sie flochten ihr Zöpfe, die sie mit bunten Bändern verzierten und mit Nadeln und Kämmen aufsteckten. Anfangs stellten sie Fragen, um alles wunschgemäß zu machen, aber als Nelda nicht antwortete, unterließen sie es. Lange berieten und stritten sie, wie sie die beiden Gürtel, die für den Sitz des Kleides und den Faltenwurf notwendig waren, an Neldas hoch gewölbtem Leib anbringen sollten. Sie konnten sich nicht einigen und Ramis wurde gerufen, die entschied, nur den Gürtel unter der Brust anzulegen und einen üppigen Bausch zu bilden, mit dem der hervortretenden starken Rundung der unteren Körperhälfte ein wenig entgegengewirkt werden konnte. Sie wollte, dass ihre Freundin, die Frau des Heerführers der Cherusker, schön war und nicht etwa den Spott des römischen Kriegsvolks auf sich zog.
Während Ramis noch Neldas Gürtel richtete, rief jemand ihr zu, dass ihr Hiwo Segithank fort sei. Er, Hauk und einige andere, hieß es, hätten sich durch den Wald davongemacht, bevor die Römer heraufkamen und den Hof besetzten. Ramis stieß nur ein bitteres Lachen aus, diese Erfahrung war ihr nicht neu. Segestes fuhr sie grob an und wollte wissen, ob Segithank noch irgendwo Beutestücke versteckt habe. Er hatte sich vorgenommen, alles zurückzugeben, was den geschlagenen Römern vor sechs Jahren von seinen Leuten abgenommen worden war und sich noch auf dem Wehrhof befand. Damit wollte er sich als reumütig und vertrauenswürdig ausweisen. Ramis wusste nichts und Segestes, der Schwerter, Dolche und kostbaren Männerschmuck vermisste, ließ in der Halle die Bänke forträumen und unter den Schlafplätzen der Verschwundenen graben. Es kam nichts zum Vorschein. Stattdessen kletterten die Vermissten kurz darauf zerknirscht aus der Einstiegsöffnung des Geheimgangs. Über und über mit Waffen und Säcken beladen, hatten sie versucht, auf der Rückseite des Hügels, die sie für unbewacht hielten, zu entkommen. Als sie sich aber mit ihrem Gepäck durch den schmalen Felsspalt zwängen wollten, war ein römischer Reitertrupp, der Geflohene verfolgte, auf sie aufmerksam geworden. Mit Mühe hatten sie sich zurückziehen können.
Segestes ergriff einen Knüppel, rannte ihnen entgegen und schlug auf Segithank ein, den er mit Recht für den Anstifter der gescheiterten Flucht hielt. Der Rotschopf wollte sich wehren, doch da schrie Segestes, verdient habe er, der die Leiche des Varus geschändet und sich immer wieder damit gerühmt habe, noch heute ans Kreuz geschlagen zu werden. Segithank fuhr ein tödlicher Schreck in die Glieder. Er fiel auf die Knie, umklammerte ein Bein seines Onkels und winselte, er möge ihm verzeihen und
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