Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
sich gemächlich zu landen an und sammelte sich zu einem etwas gesalbteren Schluß, den er also einleitete:
„Ein jede Kreatur liebet und suchet ihre Ruh! Und wann sie je aus ihrem Element getrieben ist, ringt und dringt sie so lang nach ihrem Ruhpunkten, bis sie denselben erreicht hat. Eine Magnetnadel zittert so lang, bis sie den Nordpol gefunden; also kann die Seel eines Gläubigen nicht zufrieden sein, bis sie den Polum ihrer süßen Ruh in der Liebesgemeinschaft Jesu gefunden hat.“
Auch dieses, der Vorratskammer kanzelrednerischer Gleichnisse entnommene Bild war keine Absonderlichkeit; aber es traf Anna wie eine Erleuchtung. Wie Antwort erschien es ihr auf die quälenden Fragen der durchwachten Nacht und die drängenden Empfindungen der Frühe. Ja, der alleweil abgelenkten Magnetnadel gleich war ihr Leben gewesen bishero, und den festen Punkt hatte sie wohl noch nicht gefunden; nun ging das Wort vom Pol der süßen Ruh ihr schmerzhaft durchs sehre Herz wie eine wehmütige Verheißung.
Anna neigte ihr Gesicht tiefer, um die sich feuchtenden Augen nicht zu Verrätern werden zu lassen.
Die Trauung ging vorüber. Die Neuvermählten verließen das Kirchlein, mild und strahlend wie der Herbsttag draußen. Die Dorfleute kamen mit Felizitieren und Geschenken. Und dann saß man an den langen Tafeln, Reden stiegen, Hochzeitscarmina wurden verlesen und die Ürten verteilt, die Freude ging hoch; aber Anna stand immer noch unter dem Eindruck jener Worte, und alles Nahe schien ihr wie entrückt. Sie machte nicht mit innerlich und auch äußerlich kaum; denn da sie als Brautjungfer an den Ehrenplatz, den Hochzeitern gegenüber, neben den Landvogt zu sitzen kam, wurde sie durch des alten Herrn Gesprächigkeit vielen Redens enthoben.
Sie atmete auf, als die Gesellschaft sich endlich erhob und man beschloß, der Einladung des landvögtlichen Ehepaars folgend, samt und sonders zu einem Nachtrunk nach Regensberg hinaufzufahren.
Die Wagen wurden vorgeführt und stellten sich ranggemäß ein auf der breiten Straße, die sich in angenehmer Windung um den Berg herum nach Regensberg hinaufzog. Als man sich aber zum Einsteigen anschickte, zeigte es sich, daß für die Kinder kein Platz da war, und da man entschied, das Kleinvolk solle zu Fuß hinauf gelangen, bot sich Anna erleichterten Herzens an, sie zu begleiten. Nach vielen Widerreden wurde es gewährt; doch da sie sich eben mit der kleinen Schar auf den schmalen Pfad begab, der hinter dem Pfarrhaus durch Wiesen und Rebberg geraden Wegs ins hochthronende Städtchen hinaufführte, gewahrte sie, wie Schlatter plötzlich vom Pferd sprang und mit den Worten: „Tut mir den Gefallen und reitet an meiner Statt!“ dem verdutzten Vikar die Zügel in die Hand warf. Der Wollishofer aber erhob scherzhaft drohend den Finger gegen den Freund.
In ein paar Sätzen hatte er sie eingeholt.
„Darf ich, und seid Ihr mir nicht böse, da ich mich Euch also ungebeten zum Geleit anbiete?“
Anna sah ihn kühl an. Eigentlich war sie ein wenig erzürnt über sein eigenmächtiges Vorgehen, sie hatte sich so gefreut, allein zu sein mit den Kindern und mit sich selbst. Da sie nun aber den bittenden, schier unterwürfigen Blick seiner schmalen Augen gewahrte, mußte sie lächeln.
„Ich dank Euch,“ sagte er leise und lächelte wieder, und dann stiegen sie nebeneinander den steilen Weg hinauf, der unter schwerbehängten Obstbäumen hervor in den Rebberg führte.
„Da wär’ ich heut schon mal beinahe hineingeraten,“ nahm Schlatter wieder das Wort, und dann erzählte er von ihrer frühen Kavalkade, wie sie, vor zweien Tagen in Zürich eingetroffen, von Rudis Hochzeit vernommen und sich alsobald entschlossen, ihn dabei zu überraschen. Beim Wirt in Dielsdorf hätten sie sich zu früher Stunde schon über das Nähere erkundigt und seien dann, um die Zeit zu kürzen, noch nach Regensberg hinaufgeritten, allwo sie später mit der befreundeten Familie Holzhalb zusammengetroffen. Er redete hastig, ein wenig zerstreut, als ob er nicht recht bei der Sache wäre; dann schwieg er plötzlich wieder. Und auch Anna sagte nichts davon, daß sie um den frühen Ritt wußte und mit wieviel Anteil sie ihn beobachtet hatte.
Sie blickte den Kindern nach, die vor ihnen den Weg hinauftollten, allen voran das Estherlein. Wie ein Geißlein sprang es bergan, dahin und dorthin mit lustigen Einfällen, und die andern alle, der halbwüchsige Pfarrsbub nicht ausgeschlossen, gehorsamten ihm blind. Hier und da aber warf
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