Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
Fingerspitzen hinaus.“
Anna war aufgesprungen. „Die Kinder, dort kommen sie!“ sagte sie mit belegter Stimme. „Bis wir beim Schloß sind, haben sie uns eingeholt!“ Und ohne zu sprechen, traten sie selbander ins hohe Burgstädtchen, das sich, einer geräumigen Stube vergleichbar, mit seinem traulichen, von saubern Häusern und Türmen umringten Platz lustig vor ihnen auftat.
Als sie eben das mächtige, vom Schloßturm überragte Burgtor, das den Platz auf der entgegengesetzten Seite abschloß, durchschreiten wollten, stand plötzlich das Estherlein vor ihnen. Mit beiden Händen hielt es Anna einen gewaltigen Mohnstrauß entgegen: „Der ist für dich, ganz für dich,“ sagte es und fügte dann mit gedämpfter Stimme bei und einem fremden Blitzen in den grünblauen Augen: „Aber mit dem dort sollst nimmer gehn, weil — weil ich ihn nicht leiden kann!“
Anna bemerkte, wie ihr Begleiter bei diesen Worten zusammenfuhr. Mit den aufeinander gepreßten Lippen und gesenkten Lidern sah er zum Erbarmen verletzt aus.
„Ich aber sage dir,“ wandte sie sich strengen Tons an das Mädchen, „daß ich deine Blumen nicht eher annehm’, als du dem Herrn deine schlimmen Wort abgebeten.“
Da biß sich das Estherlein mit den weißen Zähnen in die blutroten Lippen, und plötzlich, mit einer jähen Kraft, schlug es den Strauß ein paarmal gegen die Tormauer, daß die roten Blüten zerfetzt und traurig zu Boden fielen. „Da!“ Seine Augen funkelten vor Befriedigung.
„So,“ sagte Anna ruhig, „die armen Blumen hast getötet und mir die Freud genommen, aber dem Herrn hast immer noch nicht abgebeten; bevor du das getan, werd’ ich nimmer mit dir reden!“ Und ohne sich weiter um das Kind zu kümmern, durchschritt sie neben Schlatter, der ihr mit einem Aufleuchten dankte, das Tor.
Die Gesellschaft fand sich im großen Saal des Erdgeschosses wohlig besammelt an zwei riesigen Tischen, darauf mattblinkende Weinkrüge und hohe Türme der tellergroßen hellgelben Eieröhrlein gar einladende Nachbarschaft pflegten, und allbereits ging ein vergnügliches Knuspern und Becherklingen ringsherum. Als die beiden eintraten, wurden sie allseitig mit Lachen empfangen; der Landvogt aber rollte die runden blauen Augen schalkhaft im rötlichen Gesicht herum:
„ Lupus in fabula! 2 “ rief er schmunzelnd ihnen entgegen. „Oder eigentlich besser: Leo in fabula, maßen uns der wackere Junker eben erzählt, welch tapfere Löwin sich unter Eurer scharmanten Außenseite verbirgt, holde Waserin, und wie Ihr, der verrühmten orleansischen Jungfrau vergleichbar, einstmalen mit tapferer Hand in den Kampf der Männer eingegriffen und zwar zugunsten eben des Herrn, an dessen Seite Ihr jetzt also lieblich erscheinet, daß meinem wackern pfarrherzlichen Freund allbereits die Zunge nach einer zweiten Kopulationspredigt jucket.“
Erstaunt und völlig verständnislos sah Anna um sich. Aber der Wollishofer, der bei ihrem Eintreten aufgesprungen war, fuhr erklärend dazwischen:
„Ihr müßt um etwas zurückdenken, Fräulein, und an den großen Platz vor dem Collegio, allwo die Buben sich zu balgen pflegen.“
Anna sann nach, und da ging ihr aus ferner Kindheit eine blasse, lang vergessene Erinnerung auf: Ein sommergreller Morgen und zwei Buben, so zusammen ringen, grad oben an der Römergasse, wo es schier gefährlich ist vonwegen der großen Steile. Und der eine, der Feste, der ihr den breiten Rücken zukehrt, will den andern zu Boden werfen, den feinen, schlanken, grad hinunter durch die Gasse — herrje! Sie stellt ihr Körbchen ab, läuft herzu, gleitig und leis’ wie ein Mäuslein, faßt den Breiten in den Kragen und reißt, so stark sie kann, daß er vor lauter Schreck hintüber fällt auf den platten Rücken — der ander aber flieht davon, federleicht, und das blond Haar flattert hinter ihm drein.
„Ja, war’t Ihr das?“ fragte Anna voller Verwunderung, und es schoß ihr seltsam durch den Kopf, daß er also doch kein Unbekannter war, der andere, und ein warmes Gefühl stieg ihr auf beim Gedanken, daß sie einst dem Mutterlosen beigestanden.
„Waren wir, wir beiden Hänse,“ entgegnete der Junker mit komischer Betrübnis. „Aber er hat es Euch schlecht gedankt, der dort! Hat sich späterhin geschämt, daß ihm ein Mädchen hab’ helfen müssen, derweil mir, dem armen Gebodigten, in Erinnerung des zarten Pfötchens, das mich also kräftig im Nacken gefaßt, noch lang ein wohlig Gruseln über den Rücken lief. Ihr seht
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