Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
„wie ich darauf gebrannt hab’, Euch kennen zu lernen! Rudolf hat mir viel von Euch erzählt, mir und den andern. Damalen, nichts Höheres hat er gekannt als Euch. Und wann wir andern von den Frauen redeten, nicht immer fein und nicht immer schön, dann hat er Euern Namen genannt und uns alsobald zum Schweigen gebracht.“
Anna lief schneller voran, ohne zu antworten. Nach einer Weile fuhr er fort:
„Als ich heut die Braut sah, eigentlich erstaunt hat es mich, daß er schließlich an einer so kindlichen und unbedeutenden Person sein Begnügen finden gekonnt.“
Anna krauste die Brauen: Was hatte der Fremde ihre Gedanken zu teilen und gar sich ein Urteil über des Bruders Braut anzumaßen! „Enneli ist ein liebes und gutes Kind, wohl geschaffen, den Bruder glücklich zu machen,“ gab sie rasch zurück.
„Ihr sagt es,“ antwortete der andere nicht ohne einen leisen Spott, „lieb und gut — aber — ein Kind! Können wir aus der Hand eines Kindes jene Ruh und den sicheren Polum erwarten, darnach unsre arme Seel — um Herrn Teuchers Bild zu gebrauchen — wie die verstörte Magnetnadel zeitlebens zittert?“
Anna erschrak: das waren wiederum ihre Gedanken. Hatte er etwas erraten, unten in der Kirche? Sie warf den Kopf zurück: „Den sicheren Polum, ein andrer wird ihn uns kaum geben können, und auch sonst — braucht man in alle Umständ einen solchen zu haben? Sind wir alle Magnetnadeln gleich und gibt’s bloß Polarstern? Leicht könnt’ sich einer lieber den Planeten angesellen, oder dem lieben Mond, der wandert immerzu und ist kein Tag wie am andern.“ Sie sprach schnell, ein wenig herausfordernd wie einer, der an die eignen Worte nicht recht glaubt, und ihre Schritte wurden noch schneller, da jetzt auf dem sich weitenden Wege Schlatter wieder neben sie trat.
„So hab’ ich auch gedacht, früher,“ fuhr er ruhig fort. „Das Wanderblut ist ohnehin in unserm Stamm, wie denn auch mein Oheim, der Hans Caspar vom Beckenhof, so auf dem Berg Zion begraben liegt, all sein Leben gewandert und kein Ruh nicht gefunden und kein Ziel bis zum letzten. Und so bin auch ich ausgezogen, halb noch ein Kind, mit dem Vetter Leutnant nach den Niedern Landen, und war mir kein Ziel zu fern und kein Weg zu lang und keiner zu heiß — und keiner zu tief. Aber endlich hab’ ich’s gewußt: All das Reisen war doch ein Suchen nur nach dem festen Ruhpunkt, wie denn auch die Wanderstern ein fest Zentrum haben in ihrer Bahn, und die Flüss’ streben zum Meer, und selber der Sturm sucht die Stille … Ja, der fest Punkt — vielleicht kann ich suchen mein Lebtag und find’ ihn doch nimmer.“
Die letzten Worte klangen matt, fast schmerzlich, sodaß Anna ihn anblicken mußte. Er hatte den Hut abgenommen, eine Strähne des dunkelblonden Haars war vornüber gefallen und beengte die hohe Stirn, daß er auf eins merkwürdig jung aussah, fast jungenhaft mit dem leisen Zucken um den Mund.
„Eure Mutter,“ sagte Anna weicher, „hat sie’s über sich gebracht, Euch ziehen zu lassen, so jung und in das fremd Leben?“
„Meine Mutter!“ Er warf die Strähne aus der Stirne und lachte bitter. „Meine Mutter, wann ich zu ihr wollte, mußt’ ich auf ein Grab gehn, und eine Fremde stand daheim in des Vaters Haus.“
„Armer,“ sagte Anna einfach. Sie waren auf die Höhe des Weges gekommen, allwo er plötzlich in das Städtchen mündet, und da die Kinder noch nirgends zu erblicken waren, schlug Anna vor, sie hier zu erwarten. Sie setzte sich auf ein niedriges Mäuerchen, und Schlatter, der sich mechanisch ihrer Anordnung fügte, nahm neben ihr Platz. Dann fuhr er fort, langsam, mit dumpfer Stimme und tiefen Pausen:
„Ja, die Mutter, die hat mir gefehlt in meinem Leben, wie überhaupt alle stille und reine Güte. Wild war alles, ziellos und ohnsinnig. Und der feste Punkt, darnach ich gesucht all die Zeit ohn Bewußtsein, heut denk’ ich, daß er vielleicht nichts anders war als solch eine liebe, gütige Frauenhand. Oh, wie stark sie einen halten muß, wann man am Abgrund steht und dort, wo die Wege schlüpfrig sind und abwärts gleiten, und wie kühl sie über die heiße Stirn gehen muß, wie beschwichtigend über das wild Herz, daß es ganz rein wird, ganz still.“ Seine Blicke glitten auf Annas Hand, die neben ihr auf dem Mäuerchen lag. „Ihr müßt eine sehr kühle Hand haben,“ sagte er dann leise, wie zu sich selbst. „Sie ist weiß und seidig wie das Blatt einer Magnolia und voller Seel bis in die
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