Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
was sie an diesem langen Nachmittag zusammengepinselt hatte. Aber freilich, es war auch kein leichtes Ding für Hand und Auge, einem Willen zu gehorsamen, der, von lockenden Bildern und Träumen umgaukelt, immer wieder ausglitschte. Die lieben Träume! Anna legte den Kopf zurück und lächelte; dann aber packte sie resolut ihr Malzeug zusammen. Schließlich, hatte sie nicht lang genug dagesessen über der peinlichen Arbeit, jahrelang, und war der Tag, der einem des Liebsten ersten Brief gebracht — ach, einen Brief so voll Liebe und Innigkeit und zartem Feuer — war der nicht feiernswert?
Sie trat ans Fenster und sah in den nassen, von unablässigen Regenschauern durchrieselten Herbstabend hinaus. Ihr Blick fiel auf den Blarerturm, der regenschwer und dunkel mit weinenden Dachrinnen dastand, und da mußte sie an einen andern Abend denken, wo sie gleichermaßen hier am Fenster gestanden und zu dem mürrischen Klotz hinübergeschaut hatte, dannzumal, als sie von Braunfels zurückgekehrt war und ihr die verwaschene Welt und alles so trostlos vorgekommen, so grenzenlos trostlos. Und heute? Hing vielleicht der gelbgraue Himmel weniger tief als damals und waren die Pfützen auf dem unebenen Pflaster der Münstergasse minder schmutzig oder hatte vielleicht der alte verweinte Turm ein freundlicheres Gesicht bekommen? Gewiß nicht, und doch, wie anders das heute aussah! Die kleinen gelben Bächlein, die lustig die Napfgasse herunterstürzten, so eilig hatten sie es, als ob ein jegliches erzählen wollte, wie schnell die Zeit vergeht und daß ein Jahr vorüber, man weiß nicht wie! Aber die tiefhängenden Wolken, die sich fast mühsam über die Giebel schleppten, erzählten sie nicht von jenen andern, die einst die Regensberger Burg einspannen, daß es ganz heimlich wurde drinnen und voller lieblicher Traulichkeiten? Ja, in jenen verschwiegenen Tagen hatte sie den Regen lieben gelernt. Wann man einmal durch den tropfenden Garten huschte, unten an der Ringmauer vorbei, wo es so einsam war unter den efeuverhangenen Erkern, daß kein Mensch einen sah oder hörte, und wann man dann zurückkam mit kalten feuchten Händen, daß man sie sich wärmen mußte — im Jägerstübchen brannte ein kleines Feuer im Kamin, dort roch es seltsam nach Horn und Harz und regendampfenden Kleidern, und gerade war man allein … Anna lächelte, ja gewiß, er war etwas Schönes, der Regen. Mit weichen Pinseln ging er über die Welt und löschte die Gegensätze und machte alles mild und zart. Das hatte sie nur nicht gewußt, früher, aber jetzo gingen ihr die Augen auf, immer mehr.
Leise schloß sie das Fenster und wandte sich in ihre Stube zurück. Und abermals mußte sie lächeln. War nicht auch hier alles anders geworden? Mit liebkosenden Blicken durchging sie den altvertrauten Raum. Dort hing ihr Kinderbildnis, das sie noch in des Meisters Sulzer Werkstatt gemalt; mit wieviel Innigkeit hatte er es betrachtet, da sie zum ersten Mal selbander dieses Sälein betraten: „So hast du ausgesehn, Liebe?“ und dann hatte er ein wenig gelacht: „So streng war die Puppe, daraus mein holder Sommervogel geflogen?“ Und hatte sie geneckt, daß sie auf dem jungen Bilde ihr Haar also unter einer schwarzen Kappe versteckt und ihre Brust mit starrem silberverschnürtem Mieder wie mit einem Panzer also streng umschlossen hatte … Und die Tür dort, konnte sie jemals den erwartungsvollen Bogen betrachten, ohne ihn darunter zu sehn, wie er plötzlich eintrat und seine Augen leuchteten. Ja, und des Onkels Fähndrich Truhe, wie oft waren sie da gesessen mit zärtlichen Worten und zärtlichen Händen, aber in größerer Glückseligkeit nie als damals, nachdem das Sonderbare geschehn, dessen Erinnerung ihr heute noch rätselhaft anlag und mit einem kleinen Schmerz in der Brust trotz der Süßigkeit. Denn heute noch begriff sie nicht, weshalb er solches von ihr verlangte, daß sie die Plän opferte, die lang gehegten, dieweil er es nicht leiden mochte, daß sie den Tod malte, und es nicht leiden mochte, daß sie diesen Blättern eine Liebe gab und einen Eifer, den er für sich allein wollte, ganz allein. Es war so sonderbar und wehtuend. Aber als sie es ihm zugegeben und, den harten Worten und heißen Blicken weichend, die geliebten Blätter weggeschlossen hatte, für immer — wie lieb er da war, wie so ganz voller inniger Zartheit — keine größere Glückseligkeit!
Vielleicht lag alles Glück und Wunder der Liebe darin, daß man geben konnte, rückhaltslos
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