Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
einförmige Reihen dorthin, wo drei erinnerungsreiche, liebe Gräber nahe beisammen lagen. Wehmütig grüßte sie die blumengeschmückten der beiden armen Jünglinge, die das Leben so grausam um das höchste Glück betrogen hatte; aber beim Onkel Fähndrich verweilte sie länger. Sie pflückte gedankenvoll ein paar welke Blätter von dem Rosenstrauch, der zwischen festen Buchsbüschen ein paar helle verspätete Blüten trieb. Dann strich sie leise liebkosend über den rauen Stein. Da waren nun schon viele Gräber, die ein Teil ihrer Vergangenheit verschlungen — Giulio und Andreas Morell und nun auch Joseph Werner, der nach enttäuschungsreichem Lebensabend in ungeliebter Erde lag — soviel warme Erinnerungen hatten sie mitgenommen — aber keins, in das ein so breites Stück ihres eigensten Lebens versunken war, wie in dieses schlichte Grab. Und ihre Gedanken gingen wieder zu dem einsamen Manne mit dem großen heißen Herzen, und der sie so tief verstanden hatte.
Es war immer wie eine Andacht, wann sie mit diesen Erinnerungen geheime Zwiesprache hielt, und ein Abglanz davon lag noch auf ihrem stillen Gesicht, als sie später weiter unten mit dem Geliebten zusammentraf.
„Ich habe gewartet,“ sagte Schlatter ein wenig ungeduldig.
„Ich war noch auf den Gräbern,“ entschuldigte sie sich; „es war mir, daß ich nicht vorbei konnte, ohne sie zu grüßen. Grad wann das Glück zu einem kommt, soll man ihrer am mindsten vergessen.“
Er lächelte ein wenig bitter: „Das ist edel, viel edel — aber die Lebenden warten lassen um der Toten willen? Hast wohl nie daran gedacht, daß man auch zu edel sein kann, Anna? So edel, daß es den andern schier erstickt!“
Sie sah ihn betroffen an: „Nein, Hans, daran hab’ ich nie gedacht; ich hab’ auch jetzt nicht vermeint, edel zu sein, ich tat einfach, wornach mich verlangte.“ Dann schwiegen sie beide und folgten wortlos dem Weg, der heiter und voller Anmut zwischen dem hellen See und dem schwachübergoldeten Berg in die Ferne ging.
Später hub Schlatter von der nächsten Zukunft zu reden an mit viel Sachlichkeit und einigem Eifer, von der Hochzeit und der Reise und wie sie sich einrichten wollten drunten im schöntorigen Kampen und was für Menschen Anna dort finden würde in der vergnügten und witzreichen Stadt und was für Verhältnisse. Sie hörte zu. Es war wohl nötig und auch wichtig, daß man von diesen Dingen redete; aber eigentlich — solches konnte man zwischen den vier Wänden auch sehr wohl tun, und war es nicht schade um den glänzenden Herbsttag und die süße Einsamkeit zwischen rotverbrämten Weißdornhecken und blonden Weinstöcken und dem hellen Blick in die zitternde Ferne, daß man von diesen äußern und gewöhnlichen Dingen redete?
Einmal blieb Anna auf einer kleinen Anhöhe stehen, wo das Auge weit über den silbrig umsponnenen See nach den hochgerückten Höhen der fernen Alpen ging, die wie durchsichtig in den zarten Himmel verschwebten.
„Das ist der September,“ sagte sie innig; „weißt du noch, Hans, damalen, wie du mir seine feine Art priesest und ich dich nicht verstehen konnt’ und vermeinte, der rotgüldne Oktober mit seinem Glanz und Pracht und Todesjubel sei mir lieber, und scheint mir doch heute auch nichts schöner als diese zarten, wehmütigen Tage mit ihrem Abschiedslächeln und Glückverheißen.“
Da warf Schlatter den Kopf wild zurück und streckte die Arme aus mit einer seltsamen Gebärde, als ob er irgend etwas hätte umfassen wollen, das weg war, weit weg: „Mir aber ist heut der rotgüldne heiße Tag tausendmal lieber als all die milde kühle verheißende Stille!“
Anna sah ihn verwundert an, und es wurde ihr traurig ums Herz, sie wußte nicht recht warum. Dann schwiegen sie wieder beide.
Der Weg führte sie in einen kleinen Birkenforst, der, schon ganz im gelben herbstlichen Gewand, von der kräftigern Sonne mit einem betörenden Schwall goldenen Lichtes erfüllt wurde. Anna lächelte: „Da hast du ihn ja, deinen goldigen heißen Tag!“ Aber Schlatter sah sie fremd an, als ob er sie nicht begriffe, und schritt stumm weiter, mit gesenktem Kopf, wie wenn alle Pracht ihn nichts anginge.
Und der Weg schlüpfte aus dem gelben Birkenhain in einen dunkeln, tief verhängten Tannenwald und wurde so schmal, daß man hintereinander gehen mußte. Anna ließ Schlatter voran und folgte ihm mit weiten, traurigen Augen; versunken und wie abwesend schritt er durch all die stille Heimlichkeit. Ja, fühlte er denn
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