Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
da warst auch nimmer so wild.“
Der andere wandte sich brüsk nach ihr um: „Früher,“ rief er mit einem kurzen, unnatürlichen Lachen, „früher, wohl, da war ich ein elender Junge, müd und abgehetzt von einem rauen Leben, da sehnte ich mich wohl nach kühlen mütterlichen Händen! Aber jetzt, jetzt bin ich ein Mann, und die langverhaltene Sehnsucht ist wie ein Strom in mir und Gewitter, das hinaus muß, wenn ich nicht bersten soll!“
Und dann fand er Worte, viele und heiße Worte über die Sehnsucht und Nöte seines liebesehren Herzens, die Anna zwar nicht glücklich machten, die ihr aber ein Verständnis gaben, darin sie Verzeihung fand und eine gewisse Beruhigung.
Aber die Erinnerung an seine wilde Zärtlichkeit blieb doch als etwas Schreckhaftes zurück, und das Bewußtsein, daß sie einander nie fremder gewesen als in jenen Augenblicken der Leidenschaft, war das Schreckhafteste daran und warf auch über die folgenden Tage, die doch ein ruhigeres und innigeres Einverständnis brachten, einen fremden und betrüblichen Schein. Manches an Schlatter kam ihr jetzt verändert vor und neu, und oft war ihr, als ob sie neben dem alten Geliebten, der jahrelang ihre Seele erfüllt hatte, noch einen neuen müßte lieben lernen, und das war beängstigend und schmerzhaft und störte den stillen Frohmut und verscheuchte manche Nacht den Schlaf von ihrem Lager.
Auch daß das Estherlein sich mit Hans nicht versöhnen wollte, schmerzte sie; es war kläglich, die Zweiheit der beiden geliebten Menschen zu sehen, und dann erschien ihr oft in besonders bangen Stunden des Mädchens Abneigung wie ein böses Omen. Deshalb trachtete sie emsig darnach, eine gute, ehrliche Versöhnung herbeizuführen, und als sie eines Tages, aus der Stadt zurückkehrend, zu ihrer Überraschung die beiden allein in ihrer Malstube traf und sah, daß sie wie grollende Kinder abgewandt und mit roten Köpfen an den zwei Fenstern standen, suchte sie die Sache mit einem muntern Griff zu Ende zu führen. Sie zog die Unversöhnlichen, die sich ihr gleichzeitig zuwandten, bei den Händen herbei und versuchte, sie mit der fröhlichen Aufforderung: „So, nun gebt euch einen tapfern Versöhnungskuß!“ aneinander zu bringen.
Aber Schlatter riß sich mit einer zornigen Bewegung von ihr los. „Mach keinen Unsinn!“ rief er ungeduldig, während seine Brauen sich schwarz zusammenzogen. Das Estherlein aber warf einen wilden, fast grünen Blick nach ihm hinüber, während das heiße Rot ihm vom Gesicht über den weißen Hals hinunterschoß. Dann stürzte sie mit solcher Heftigkeit davon, daß man nach wenigen Augenblicken schon das Zufallen der schweren Haustüre vernahm.
Schlatter hatte das eine Fenster aufgerissen und sah nun in die Straße hinunter dem Mädchen nach, das mit raschen Füßen durch die steile Napfgasse entfloh.
Als das letzte Endchen von Estherleins bauschigem, blaßfarbenem Gewand oben an der Ecke des Hauses zum blauen Himmel verschwunden war, wandte er sich zu Anna zurück. Sein Gesicht war wieder ruhig, und seine Stimme tönte fast weich, als er zu ihr sprach: „Es gleicht dir, das Estherlein, merkwürdig, wie es dir gleicht, fast so mußt du ausgesehen haben, als du jung warst — so jung wie sie. Nur herber ist sie und heißer mit den schwarzen Haaren und dem aufreizenden blauen Blick. Und dann die Hände, braun und schlank mit eigensinnigen Fingern und kurzen Nägeln, die Füß aber kurz und bodenfest mit starken trutzigen Hacken.“
Anna lachte überrascht: „Sieh einer, wie scharfäugig die Abneigung macht!“
Doch der andere ließ sich nicht beirren: „Aber deine Füße, Anna, schmal und hochgeschwungen, als ob sie jeden Augenblick den Boden fliehen und aufschweben möchten, und die Hände weich, weiß und schmiegsam und so gut.“
Er griff nach ihrer Rechten, und während er sich mit Anna auf der Truhe niederließ, streichelte er die weißen Finger behutsam und ehrfürchtig.
„Weißt du, in sie hab’ ich mich wohl zuerst verliebt, ganz zuerst,“ sagte er mit einem innigen, fast wehmütigen Ton. „Ganz zuerst in diese weißen, sanften Hände.“ Und während er unablässig und zart darüder strich, legte Anna den Kopf an die Wand zurück, mit geschlossenen Augen und ließ seine sanfte Zärtlichkeit wie etwas Süßes, Wehmütiges, unsäglich Beglückendes über sich hinströmen.
So saßen sie lange, regungslos und ohne ein Wort zu sprechen. Dann legte er ihre Hände in ihren Schoß zurück, ganz zart, wie eine Mutter
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