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Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Anna Waser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Waser
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unbeschreiblicher Freude in zarten, aber bestimmten Takten wahrnahm.
    Aber im gleichen Augenblick riß Schlatter mit einem kalten Griff ihre Hände von dem Estherlein los. „Laß das!“ rief er heiser, und dann warf er sich neben die Regungslose hin und zog das weiße Gesicht in seine Arme: „Du, du Liebstes, Liebstes! Sterben wollen hast du für mich! Aber nun ist es vorbei, nun können wir nicht mehr, nun gehören wir zusammen, ganz und für immer! Hörst? Hörst? Ganz und für immer!“
    Und Anna sah, wie er jene wilde Zärtlichkeit, die ihr so schreckhaft gewesen, über die andere ausströmte und wie diese, erwachend, mit einem heißen Jubel in dem Strom untertauchte — und dann zogen auf einmal kleine graue Wellen über die Ebene — tausend kleine graue Wellen und drangen nach ihrem Herzen und schlugen über ihr zusammen; aber sie ging nicht unter in den tausend grauen Wellen, und als diese zurückgeebbt waren, stand sie immer noch da, halb gestützt von den Zweigen eines Uferbusches, und die blutenden Hände voll zerrissenen Buschwerks. Aber die beiden hielten sich immer noch in den Armen; die triefenden Kleider vermischten sich, und die Augen lagen ineinander und feierten jenes höchste Fest, das auch sie einst gekannt und davon sie geträumt hatte, jahrelang.
    Sie wandte sich und floh, landeinwärts, über die erloschene Flur, auf Pfaden, die so weich waren, daß der Fuß bei jedem Schritt einzusinken vermeinte, vorwärts, vorwärts, durch die unendliche tote Welt — wohin?
    Ein Wagen holte sie ein. Rudolf sprang heraus und half ihr in das schlichte Gefährt. „Ich muß in die Stadt zu Dietschis um trockene Kleider,“ sagte er und zwang sich zu einem gleichgültigen Ton.
    Anna setzte sich neben ihn, wortlos; es tat ihr fast wohl, die müden, müden Füße nicht mehr bewegen zu müssen. Er sah ihr voller Betrübnis in die Augen, und dann zog er sie plötzlich an sich, und sprangen ihm die Tränen hervor: „Schwesterlein, armes, armes du!“ Und streichelte ihr die kranken Hände: „Es ist so furchtbar, aber sieh, es tut ihnen leid, wissen selbst nicht, wie es gekommen: das Estherlein weint und will ihn auf eins nimmer sehen und sagt, keinen Blick geb’s ihm mehr, ehe du ihnen verziehen; aber der Hans, wie ein Verzweifelter redet der viel schlimmes, schier sündiges Zeug, er sei ein Unglücksmensch von allem Anfang an, den schon die Mutter hätt’ mitnehmen sollen, damalen, als sie an ihm starb, und daß es das Best wär’, wenn er es machte wie der Jacob Cramer … Sieh, die sind auch nicht glücklich, die zwei.“
    Da legte Anna die Hände ineinander, ganz fest, und ihre müde Stimme tönte fast streng, als sie sprach: „Sie sollen aber glücklich werden, Bruder, da ist nichts zu verzeihen und nichts zu erklären, da hat ein anderer entschieden.“
    Und Rudolf schloß sie in seine Arme und küßte sie andächtig auf die bleichen Wangen: „Du großes Herz!“ Dann schwiegen sie beide.
    Anna blickte vor sich auf den weißen Weg, der sich mählich zusammenzog unter den schnellen Rädern, und blickte auf die Stadt, die mit vielen grauen Türmen am Himmel heraufwuchs, und da schoß es ihr durch den Sinn, daß sie schon einmal so neben dem Bruder durchs Land gefahren, an jenem kaltklaren Jännermorgen und hatte vermeint, daß es hinausginge in die große schöne Welt. Nun aber kehrte sie zurück mit gebrochenen Flügeln, zurück in die enge Stadt, die ihr mit schwarzgeöffneten Toren entgegengähnte, wie mit dem Rachen eines beutegierigen Tieres, und keinen gibt es mehr frei, den es einmal verschlang.
    Als das Gefährt vor Dietschis anhielt, stieg Anna rasch aus, die weitere Begleitung ablehnend; aber während sie dem Bruder die Hand zum Abschied reichte, sagte sie in einer scheinbar ruhigen und sachlichen Art: „Der Esther kannst du sagen, was die Aussteuer betrifft, dafür ist dann gesorgt,“ und wandte sich schnell und ging davon, ohne sich nach der heraustretenden Schwester umzusehen. Und keiner sah es, wie sie daheim ins Haus trat, keiner gewahrte es, wie sie mit todmüden Füßen sich die endlosen Treppen hinaufschleppte und wie sie in ihrem Malstübchen zusammenbrach …
    Elisabeths Meitlein verließen schon mit schlecht gedämpfter Fröhlichkeit die Nachmittagsschule, als Anna sich endlich aus ihrer dumpfen, tränenlosen Verzweiflung aufraffte. Mit verlorenen Augen sah sie sich in der verödeten Malstube um; da blieb ihr Blick an ihrem Jugendbildnis hangen, das mit seinen dicken und

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