Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
nicht die Verlockung dieser innigen Pfade und fühlte er denn nicht, wie sie sich nach ihm sehnte, nach einem lieben Wort, nach einem warmen Blick, der ihr gesagt hätte, daß sie eins waren? Oder waren sie es nicht mehr? Was war das, daß sie nebeneinander gehen konnten und doch zweierlei denken und zweierlei sehen, und hätte sie es je geglaubt, daß man so hingehen konnte, selbander und doch mit diesem schweren, schweren Herzen …
Als der Wald zu Ende war und die weithin sichtbare Straße sie wieder aufnahm, ging auch Anna mit gebeugtem Kopf und ohne der Schönheit und des freudigen Lebens rings zu achten.
Plötzlich fuhr Schlatter auf, als ob er aus einem Traum erwachte: „Wie gehst du auch dahin,“ rief er schier ärgerlich, „als ob es einem Leichgang gälte! Sind wir denn nicht zwei Liebesleute, so sich freuen sollten?“ Und er versuchte, sie an sich zu ziehen.
„Nicht hier, Hans, nicht an der gemeinen offenen Straße!“ Anna wehrte ihm. Da wurde er eigensinnig:
„Was geht’s mich an, die Leut, wann ich mein Liebchen küssen will?“ und zog sie mit heftigen Händen in den Schatten eines Holderbaums, der breitästig am Wege stand, und preßte sie an sich mit einer hastigen Glut. Anna ließ es geschehen, ohne sich zu wehren, aber auch ohne die Zärtlichkeiten zu erwidern; denn ihr Herz, das vorhin noch so innig nach seiner Liebe verlangt hatte, zog sich unter diesen heißen, herrischen Liebkosungen fröstelnd zusammen.
„Siehst du, wie kalt du bist!“ Er ließ enttäuscht die Arme sinken und trat einen Schritt zurück: „Wie ein Steinbild kalt!“ Und dann kam ein unschöner Zug in sein erhitztes Gesicht, derweil er sie mit scharfen Augen maß: „Was ist es mit dir, daß du dich so verändert hast?“
Anna sah ihn nur groß an; aber er fuhr heftiger fort, mit einer ungeduldigen Gebärde und redete sich in Eifer wie durch Widerspruch gereizt: ,,Wohl, wohl hast du dich verändert, früher warst du beides, heißer und trutziger, nun ist alles weich in dir geworden, aber auch das Feuer ist dahin. Schon selbigsmal hab’ ich’s gefühlt, da du mir’s schriebst wegen Heinrich: Wann die Liebe so in ihr wär’, hätt’ sie’s nimmer gekonnt, aus Edelmut mich opfern, so hab’ ich mir gesagt, hundertmal des Tags, wann die Leidenschaft in mir brannte und der Zorn — sie weiß nicht, was Liebe ist, sie weiß nicht, was Liebe ist!“
Er brach ab. Seine Stimme war plötzlich unsicher geworden, Anna stand groß vor ihm. Sie regte sich nicht, nur die Hände glitten in einer unsäglich wehen Bewegung am Körper nieder, sie schimmerten von krankhafter Blässe. Und in ihren Augen lag etwas, das er früher nie an diesem klaren Blick gesehen, schmerzhaft und unergründlich und so, daß es alle seine eifrigen Worte Lügen strafte.
Da stürzte er vor ihr nieder und barg sein Gesicht in ihren Kleidern und stöhnte: „Anna, Anna, eine Heilige bist du, ich aber bin schlecht, so schlecht!“ und sprang auf und eilte davon mit der Straße über das offene Feld.
Anna aber folgte ihm müden Fußes, wie eine, die sich mit Wunden schleppt.
Auf der Straße kam er ihr wie demütig entgegen: „Verzeih,“ sagte er leise und zog ihren Arm mit einer zarten Bewegung durch den seinen und behielt ihre Hand mit einem innigen Druck: „Schau, das ist nun so in mir, wirr und aufgeregt und voller Widersprüch; aber wann wir einmal beisammen sind und alles sicher und abgeschlossen, dann wird’s wohl anders werden.“
Und nach einer Weile: „Das denk’ ich mir schön, in deinen Armen sterben, in deinen milden, guten Armen möcht’ ich einmal sterben.“ Aber da Anna ihn fragend und schmerzlich anblickte, suchte er sich zu erklären: „Derlei Gedanken, der Hans Schmid, der Wollishofer, hat mich daraufgebracht. Voriges Jahr, da er vor Mons auf die Brust blessiert ward und man ihn für einen Toten gehalten: ‚Alles macht nichts,‘ hat er mir nachher gesagt, ‚Schmerzen vergehn und Wunden heilen, und auch die lang Nacht auf dem Schlachtfeld, da man als ein Halbtoter zwischen Toten lag und einem das fremd Blut am eignen Leib harschte, all’s vergißt man; aber daß man nun weiß, wie einem zumut ist, der sterben muß, ohne eine liebe Hand, die ihn pflegt und die ihm letzte Kühlung gibt und letzte Wärme — das könnt’ einem doch schier das Leben verleiden!‘ Da ich ihn aber aufmuntern gewollt, solches könnt’ er wohl noch finden, eine liebe Hand, hat er mich nur so angeschaut: ‚Ja, du kannst reden, du bist
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