Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
lebhaften Farben stattlich neben dem grünglänzenden Ofen hing. Und wie ihre heißen Augen den frischen, sicheren, schalkhaften des jungen Bildes begegneten, geschah es, daß plötzlich in ihrem gemarterten Hirn Gedanken aufsprangen, scharf und unerbittlich, wie sie solche seit langem umsonst gesucht, und ihr all ihr seltsames Leben, Ursprung, Zusammenhang und Notwendigkeit des leidvollen Endes in klares, unzweideutiges Licht setzten. Neue heiße Schmerzen fuhren ihr durch die Brust; aber sie fand doch in der schneidenden Klarheit einen Halt, daß sie auf sicheren Füßen das Zimmer durchschreiten konnte und daß ihre Finger nicht zitterten, als sie das schwere Bild von seinem Platze hob und es in einer dunkeln Ecke gegen die Wand stellte. Es war wie Vorsatz und Ruhe in ihren Bewegungen, als sie nun nach der Truhe ging und aus ihrem Schoß ein anderes Bildnis hervorholte, um es an der leeren Stelle anzubringen. Und da nun von der dunkeln Wand Giulios schmerzhaft unvollendetes Werk herniederblickte, atmete sie auf wie eine Erlöste und grüßte mit einem matten Lächeln die weichen, tränenfeuchten Augen und den schmerzlichen, unsicheren Mund: So war es nun, alle Verheißung Trug, und dieses arme Bild allein behielt recht; solches aber war Sinn und Ziel ihres Lebens, unvollendet, abgebrochen auf halbem Weg. Ihre Kunst hatte sie sterben lassen, ihre Liebe hatte man ihr getötet, alle Ganzheit war zerstört, mußte nun nicht auch der letzte elende Rest ihres Daseins zu Ende kommen? Wäre es sinnvoll und recht, daß nun der seelenlose Körper so hätte weiterleben müssen? Nein, sie fühlte es ja mit einer befreienden Sicherheit, daß es nun auch mit dem andern ein Ende haben mußte. Irgendwoher würde er kommen, der stille Erlöser, an dessen Erlöserkraft sie so fest glaubte, irgendwoher und sicher.
Ein Eifer kam über sie wie über einen, der sein Tagewerk noch vollenden will, ehe er sich zur Ruhe legt. Mit emsigen, fast leichten Schritten ging sie nach der kleinen Bodenkammer hinüber und holte Körbe herbei, einen nach dem andern, und dann öffnete sie den großen Wandschrank, schier hastig, daß die schweren Türen leise sangen, und hob geschäftig das lastende Leinenzeug herunter, das sorgfältig geschichtet zwischen den dunkeln Brettern lag, und legte es behutsam in die weißen Körbe, und wann ihr der müde Lavendelduft und der Anblick so vieler inniger Arbeit mit überwältigenden Erinnerungen ins Herz stach, dann preßte sie das kühle Zeug heftig an die heiße Brust und ließ keinen einzigen Schmerzenslaut über die schmalen Lippen.
Als der Schrank leer war, legte sie das kleine schwarze Kästchen zu oberst auf den größten der Körbe, daß es auf dem weißen Linnen stand wie ein schwarzes Siegel auf einem Trauerbrief, und dabei fuhr es ihr durch den Kopf: Das, wann es nicht gewesen wär’ mit dem Heinrich und seine Sehnsucht nicht also gemartert und abgespannt worden durch das Warten, leicht wäre es anders gekommen. Aber sie verscheuchte den Gedanken — Vorbei — vorbei … Dann sank sie erschöpft in ihren Stuhl zurück und faltete die Hände und nickte nach den hohlen Augen des ausgeraubten Schrankes hinüber. Wie oft hatte sie diese Stunde herbeigesehnt, nun war es eine andere Reise, auf die sie wartete, und sie war bereit zum Aufbruch.
Da öffnete sich die Türe, und Heinrich trat herein. Mit verstörtem, umschattetem Gesicht, blasser noch als in jener schlimmen Nacht. Er sah sich erschrocken in dem durchstöberten Raum um; dann trat er zu Anna mit unsicheren und schier verlegenen Schritten: „Ich war in Zollikon,“ sagte er tonlos, „um das Estherlein.“
Anna sah ihn voll an: „So weißt du es denn,“ erwiderte sie still.
Er nickte, und plötzlich schlug er die Hände vors Gesicht und schluchzte auf: „Oh, ich hab’ an sie geglaubt, so felsenfest, und nun konnte sie das tun, dir und mir, das Schändliche, das Abscheuliche!“
Aber Anna wehrte ihm: „Nicht so,“ sagte sie sanft und zog ihm die Hände herunter. „Nicht anklagen, schau, sie haben sich gewehrt, keiner weiß es wie ich, wie sehr sie sich gewehrt haben; aber nun hat das Schicksal geredet, und, glaub mir, nie hat es zwei zusammengefügt, die inniger zueinander paßten.“
Heinrich sah die Schwester voller Staunen an, aus großen, wie von innen erleuchteten Augen: „So redest du, du, der sie alles genommen?“ Und dann warf er sich vor ihr nieder und barg das Gesicht in ihrem Schoß und küßte ihre Hände: „Anna, nun
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