Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
darzustellen.“
„Freilich,“ entgegnete Herr Werner, „kann unser gebildetes Jahrhundert, das den Ernst auch des Kleinsten zu erfassen versucht, an derlei Späßen keinen Geschmack mehr finden. Dawider muß gesagt werden, daß es von jeher dem Berner gefiel, die Wahrheit mit lachendem Munde zu sagen und gar das Schmerzhafte mit einem grimmen Witz zu verzieren, derweil der Zürcher das Ernsthafte gern mit ernsthafter Gebärde unterstreicht, wie denn viel Fröhlichkeit und lustbarlich Wesen hinter unseren trutzigen Mauern wohnt, während eure lieblichen Häuser ein gar ernst arbeitend Volk bergen, das auch dem Kleinsten Wichtigkeit zu geben gewohnt ist. Haben doch bei euch sogar die Feste ein eingeteilt und ordnungsgemäßes Gesicht, derweil man hier selbst wichtige Staatsgeschäfte mit einem lustigen Aufzug zu verbinden sich nicht scheut.“
Sie gingen durch die Vordere Gasse, um auf einem Rundgang zu Herrn Werners Wohnung zurückzugelangen, wo der Amtmann sich vor seiner Reise, die ihn zunächst noch in Geschäften ein Stück weiter dem Welschland zuführte, verabschieden wollte. Mit klopfendem Herzen schritt Anna zwischen den beiden Herren durch die kräftig geschwungenen Bogengänge, in die eine warme Frühlingssonne wohlig hereinzündete. Der Abschiedsschmerz lag ihr auf der Brust und kam doch nicht ganz zurecht neben einem lebendigen Gefühl, das sie trieb, alle Erscheinungen rings mit offenen Augen aufzunehmen und in einer geheimen und beglückenden Weise zu deuten. Allenthalben war den Augen köstliche Weide: an den fröhlich bemalten, oft abenteuerlichen Figuren der hellfließenden Brunnen, am alten Zeitglockenturm mit seinen Bildern und unterhaltsamem Uhrwerk; ja selbst sein junger Bruder, der strenge Käfigturm, den man sonst nicht ohne Schrecken betrachten konnte, schien an diesem Sonnenmorgen und unter dem Schmuck eines weißen Taubenflugs fast freundlich und von gutmütiger Behäbigkeit. Vor den Arkaden durch zog sich das muntere Markttreiben und füllte die weite Gasse mit einem bunten, schier festlichen Leben. Da waren die jungen Bäuerinnen, die wohlgeborgen zwischen dem vorspringenden Gestrebe der Laubenfüße hinter ihren Ständen saßen und die so gern in einem Lachen die weißen Zähne zeigten. Und zwischen frischem Grünzeug die mächtigen Butterballen und der weithin duftende Käse mit dem saftig goldenen Anschnitt. An der Sonne dehnten sich schönfellige Karrenhunde, und Kinder wirrten zwischen den Ständen herum, und etwa stöberte ein trockener Bauernwitz ein lautes oder schlecht unterdrücktes Lachen auf, das gar vergnügt durch die Luft wirbelte. Hier und da fuhr ein rascher Windstoß durch ein Seitengäßlein herein und trieb die weißen Blachen 16 der Verkaufsstände lustig in die Höhe und verwirrte die reichen Faltenkleider der jungen Frauen, die neben ihren Mägden mit niedlichen, hochgestellten Füßchen über die breiten Pflastersteine trippelten und mit mehr Anmut denn Ernsthaftigkeit ihre Einkäufe zu besorgen schienen. In zierlicher, mit mancherlei Französisch vermischter Sprache unterhielten sie sich leutselig mit den Marktweibern, während sie ihre schönen Augen auf koketten Wegen nach den jungen Kavalieren ausschickten, die hier und da, mit Degen und Barett aufs schönste ausstaffiert, in kleinen Gruppen durch die Lauben streiften und den Dämchen ihre versteckten und offenen Huldigungen darbrachten.
Anna betrachtete mit erstaunten Augen das ungewohnte Bild. Das war so ganz anders als daheim, wo der Markteinkauf ein wichtiges Geschäft war, das die Hausfrau, von Stand zu Stand mit den mürrischen Bäuerinnen feilschend, erledigte, im schlichten Werktagskleid, mit berechnenden Mienen und kargen Händen. Aber hier schien keiner Eile zu haben und keiner sein Geschäft allzu wichtig zu nehmen. Wie ein vergnügtes Bächlein, das in ziellosen Windungen durch breite Wiesen plätschert — denn es hat Zeit und der Ort ist ihm lieb — so schien hier das Leben zu gehen, während es daheim rasch und kräftig dahinströmte wie ein strammer Bergbach, der durch sein tiefes und gerades Bett geschäftig von einem Mühlrad zum andern eilt. Anna stand außerhalb als eine Fremde, und dennoch war ihr zumute, als ob sie eine Melodie vernähme, die zwar dem Ohre neu, aber dem Herzen vertraut klingt.
Sie hörte ihren Vater mit herben Worten das müßige Herumstehen und unwürdige Treiben der unbeschäftigten Jugend tadeln und vernahm Herrn Werners begütigende Antwort: „Es sind junge
Weitere Kostenlose Bücher