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Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Anna Waser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Waser
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die zarte, etwas unsichere Hand der Mutter, die kleinen, von mehr Angst denn Zuversicht getragenen Wünsche, die doch so liebevoll waren, daß man sich zusammennehmen mußte, um nicht zu weinen darüber aus lauter Liebe und Rührung und einem eigenen zitternden Gefühl, das man nicht erklären konnte und das einen zärtlich machte und still und ein wenig traurig. Einige davon aber trugen Rudolfs, des älteren Bruders, lebhafte und krause Schrift; die waren die umfänglichsten unter allen und vielleicht die liebsten, denn Anna konnte nicht ohne Herzklopfen an sie denken. Darin stand, was sie am meisten zu wissen verlangte, von der Geschwister Leben und Treiben, von ihren Wünschen und Plänen, von des kleinen Heinrich sonderbaren Einfällen, von Lisabeths stillem und sinnreichem Wirken und dann von seinen, des Bruders eigenen Schmerzen und Freuden, den vielerlei inneren Kämpfen, solche dem jungen Theologen nicht erspart blieben, und den kühnen jubelnden Hoffnungen, die er auf seine und Annas Zukunft setzte. Alles das wußte der im Leben nicht Wortreiche in seinen Briefen mit Herzlichkeit und Farbe hinzuschreiben, daß man es sehen und spüren konnte. Auch von Lisabeths feiner Hand waren ein paar Worte da, immer voller Zärtlichkeit und voll selbstlosen Glückes über der älteren Schwester Erfolge. Von Maria nur ein einziger karger Zettel mit einem Neujahrswunsch; der war seltsam steif und nüchtern, und man meinte, etwas Müdes, Ersticktes daraus zu hören.
    Anna löste die Schnur und entnahm dem Bündel den obersten, zuletzt eingetroffenen Brief ihres Vaters und las ihn sorgsam durch, um sich zu überzeugen, daß sie keine seiner Fragen unbeantwortet gelassen hatte. Befriedigt legte sie ihn zurück und nahm den eigenen Brief noch einmal vor. Ja, es stimmte, keinen der wichtigen Punkte hatte sie übergangen. Da stand alles, was er zu wissen verlangte: der genaue Bericht über den Fortgang ihrer Arbeit, der Malerei wie der andern Studien, das Verzeichnis der zuletzt gelesenen Bücher, die kleine Abrechnung über die Auslagen des letzten Monats, die lückenlose Reihe von Aufträgen und Grüßen an unterschiedlicheVerwandte und Bekannte und über alles hinaus die Nachricht von einem ersten wichtigen Auftrag, den der hochgelehrte Herr Andreas Morell ihr gegeben in der Form von Kopien nach antikischen Münzen und Gemmen, an deren Ausführung sie morgen schon gehen würde. Schließlich noch ein paar Mitteilungen, die dem Vater nicht gleichgültig sein mochten: daß Herr Werner sein über die Maßen schönes Gemälde, Adam und Eva im Paradeis, worin das Gesicht der Eva ihrer Freundin Sibylla nachgebildet sei, dem berühmten Chirurgo Bauernkönig abgetreten habe, daß in der Stadt viel Geschrei und Aufregung von wegen der französischen Flüchtlinge sei, weil man hoffe, etliche Hundert nach Irland oder sonstwohin verschicken zu können, ansonst eine Teurung und Hungersnot prophezeit werde, und daß man unterschiedenen Exulantinnen, die sich durch auffallende Trachten hervorgetan, auf dem Spaziergang bei der großen Kirche, allwo man sich an schönen Abenden zu ergehen pflege, öffentlich und vor allem Volk den übertriebenen, mit großen Spitzen, Bändern und heraushangenden Fontanges 1 geschmückten Kopfputz abgenommen habe. Wozu Anna die altkluge Bemerkung gefügt, daß es sich wenig schicke, durch übertriebene Kleiderhoffart der Ehrbarkeit Ärgernis zu geben, wenn doch man um des Glaubens willen von einer hohen Obrigkeit unterstützt werde.
    Ja, es war alles da, und doch stimmte es nicht ganz. Anna sah den Bruder mit neugierigen Augen den Brief durchforschen und ihn enttäuscht wieder weglegen. Es führte durch dieses wohlerwogene Schreiben kein Weg zum Herzen der Geschwister, vielmehr war er wie eine Mauer, die sich glatt und kalt zwischen sie hineinstellte. Das durfte nicht sein. Anna griff nach einem zweiten Bogen und ließ die Feder weniger bedachtsam als vorher darüber hinspringen. In einem Zuge überschrieb sie die großen Seiten, und als sie zu Ende war und den Brief überlas, da nahm er sich neben dem andern aus wie eine lustige Wildnis neben einem wohlgepflegten Garten, so bunt und fröhlich kollerte es durcheinander von Fragen und Erzählungen und kleinen Neckereien und Herzlichkeiten. Erfreut legte sie die engbeschriebenen Blätter zusammen, vierfach, sodaß sie sich in den andern Brief leicht hineinschieben ließen, und adressierte mit fester Hand: „An meine lieben Geschwister Maria, Rudolf, Elisabeth

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