Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
immer besondern Geheimnissen nachzuhängen schien, an Lisabeths weißes, wie von innen erleuchtetes Antlitz mit den großen blauen, ein wenig bangen Augen der Mutter. Und an Heinrichs zartes Kindergesicht mit den blaudurchäderten Schläfen, dem ernsthaften, dunkel unterstrichenen Blick und dem blassen rötlichen Haar, das sich anfühlte wie Seide und nach reifem Korn duftete. Hatten sie nicht alle etwas an sich von jenen zartfarbigen Nachtfaltern mit den weichen Flügeln und großen Augen, solche die Sonne scheuten und sich nur abends hervorwagten, wann die Linden über der Limmat der Nacht entgegendufteten? Nur Esther war anders; die hatte ein kräftiges und taghelles Wesen und hatte sich damit frühzeitig in eine glückliche Ehe gesetzt, wo sie der Sonne nicht ermangelte.
Von diesem Wesen hatte auch sie ein Teil; das fühlte sie erst, seitdem sie in diesem jungen und fröhlichen Hause lebte. Oh, sie wollte es groß ziehen und soviel Sonne in sich aufsaugen, daß sie dereinst auch ihren Geschwistern das Leben fröhlicher und heller machen konnte!
Anna sprang auf, reckte die Arme, daß die feinen Gelenke krachten, und stieß den Fensterladen zurück, daß ihr ein breiter Lichtstrahl in die geblendeten Augen fiel, und ein paar Fliegen, die bisher verschlafen an der Wand gehangen, durchirrten mit überraschtem Gesumm die plötzlich erhellte Kammer.
Die Tür flog auf. Im festlich hellblauen Kleide mit frischen Wangen und glücklichen Augen stand Sibylla im Zimmer. Hinter ihr tönte Giulios Lachen und erschien Christophs heißes, von der Sonne gerötetes Gesicht.
„Anna, Nonne, Jungfer Tugendreich,“ rief Sibylla übermütig, „was denkst, wann wir dich zu einer weltlichen Lust versuchen wollen? Schnell, schnell, komm herunter und nimm dein Hütchen mit; gleich nach dem Essen gehen wir all auf den Spaziergang zur Plattform hinüber. Und mit mußt du!“
„Gewiß, ich komme!“ antwortete Anna fröhlich. Nach der herrlichen Stille dieses Nachmittags freute sie sich auf den bunten Spaziergang. Sie ordnete rasch ihre Kleider, nahm ihren Hut und folgte den andern, die laut die Treppen hinabstoben gleich ausgelassenen Kindern.
*
„Nehmt Euch in acht, Anna, Anna Patricia Tigurina, daß die heilige Obrigkeit nicht Euern Kopfputz wegen ärgerniserregender Exagerationen konfiszieret!“ Giulio rief diese Worte mit halb unterdrücktem Lachen, während er neben Sibylla und Christoph hinter Herrn Werner und Anna die Junkerngasse hinaufschritt.
„Es würde mir leid tun um das kostbare Stück,“ erwiderte Anna mit verstelltem Ernst. Sie wußte, wie sehr ihr schwarzes Zürcher Hütchen seiner Einfachheit wegen den verwöhnten Italiener zum Spott reizte.
„Es steht Euch übrigens fürtrefflich, das steife Monstrümchen,“ fuhr er fort, „und gibt Eurem Haar und Euern Augen einen solchen Vorsprung, daß ich fürchte, die Hochedeln werden sich am Ende an solchen als an der gefährlichsten Waffe des dulce animal venenosum 4 vergreifen.“
„Das ist abscheulich!“ rief Anna und pflanzte sich mit scherzhaftem Zorn vor Giulio hin. „Das dulce sowohl wie das venenosum !“
„So laßt mir,“ erwiderte dieser lachend, „das dulce und gebt das andere den Obrigkeitlichen!“ Und indem er ein feierliches Gesicht schnitt und die weißen Hände gleich einer beengenden Ratsherrnkrause um den schlanken Hals legte, deklamierte er mit ehrfurchtsdumpfer Stimme und fließendem Accelerando: „Den hochgeachten, wohledlen, gestrengen, frommen, festen, fürsichtigen, wysen, gnedigen, hochehrenden —“ Aber Herr Werner schnitt ihm mit einem „Schindluder!“ sotto voce 5 das Wort ab und mit einem raschen Blick nach der andern Laube hinüber, durch die eben zwei Ratsherren in lebhaftem Gespräch schritten. Giulio verstummte, und die kleine Gesellschaft schritt in der alten Ordnung und mit einem versteckten Lachen, das auch Herrn Werner vernehmlich um die Nasenflügel tanzte, der Münsterterrasse zu, von wo ihnen ein großes und lebhaftes Summen menschlicher Stimmen entgegendrang.
Der westliche Himmel rüstete sich eben mit scharf gelbem Glanze zum Sonnenuntergang, und ein lockeres Abendwindchen brachte von den sechzigjährigen Linden, die in zwei stattlichen Reihen die Plattform durchzogen, einen süßen und träumerischen Duft mit sich.
„Ah,“ rief Herr Werner erfreut beim Anblick der festlichen Menge, die zwischen den Baumreihen hin-und herwogte, „da sieht man ja wieder einmal tout Berne zusammen!“ Und er grüßte mit
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