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Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Anna Waser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Waser
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und Heinrich der Waseren“; denn sie dachte sich, der verheirateten Schwester werde der elterliche Brief wohl genügen. Dann faltete sie auch diesen sorgfältig, gab ihm seine lange und umständliche Adresse und setzte endlich zwei große dunkelblaue Siegel darauf.
    Wohlgefällig betrachtete sie den Stempel, der sich scharf dem weichen Wachs einprägte. Sie hatte dieses Wappen immer geliebt wie etwas Persönliches, und kein anderes war ihr je so vielsagend und schön vorgekommen. Man konnte lange darüber nachdenken, und man fand die ganze Welt darin. Vor allem war da der schöne blaue Grund mit dem goldenen Ruder und Stachel; da mußte man an den lieben blauen See daheim denken, wie er weithin in die dunstigen Berge verrinnt, und an das lustige Treiben der Seebuben, wann die Segelschiffe mit gelben und weißen Flügeln dahinschießen und die Nauen 2 mit purpurnen Verdecken mitten in einer güldenen Sonnenbahn unter dem Grendeltor hervortreiben und flinke Ruder kleine glänzende Wellen aufplätschern lassen. Und da waren die vier klaren Sterne so leuchtend im Blau, daß man an eine Sommernacht denken mußte, wann der Himmel tief ist und durchsichtig und die Sterne ganz still und ohne Gefunkel darin stehen und man meint, durch ebensoviele Fensterlein in den ewigen Glanz hineinzublicken. Aber wann sie die beiden Hirschgeweihe betrachtete, die der Besitz der Herrschaft Lufingen dem Waserwappen eingetragen, dann mußte sie immer an den tiefen Wald von Rüti denken, wann sie den Vater auf seinen Forstgängen begleitete, oft bis ins ängstliche Dickicht hinein, wo es nach Moos und toten Blättern roch. Dann geschah es wohl, daß ihre leisen Schritte plötzlich ein Tier aufjagten, sodaß es mit fliegenden Schenkeln durch die Büsche brach und man hier und da einen schlanken Leib oder köstlich Geweih zwischen den Stämmen aufleuchten sah. Das kleine Kleeblatt zu unterst am Wappen endlich erinnerte an das weite herrliche Feld, das sich smaragden über den Talgrund ausbreitete, dort, wo der Mühlbach in die Jona fließt. Im Mai war es immer übersät mit den lustigen Kugelchen seiner weißen und roten Blüten, und der süße Honigduft rief von weither die Hummeln, daß die ganze Luft von vergnügtem Summen erfüllt war. Dort hatte sie auch den Vierklee finden gelernt, den sie seither auf allen Wegen entdeckte, wo nur ein Kleestäudelein hingelangte, und die einen prophezeiten ihr ein glückhaftes Leben davon, die andern aber einen frühen Tod.
    Anna strich mit liebkosender Hand über das blaue Siegel. Mit welchen Gefühlen sie es wohl erbrachen daheim? Ob sie sich darüber freuten und ob die Geschwister lachen konnten, so recht von Herzen lachen über ihren bunten Brief? Ach, den andern Freude zu machen und sie zum Lachen zu bringen, das gehörte ja vielleicht zum Schönsten im Leben. Das hatte sie früher nicht so recht gewußt. Das hatte sie erst hier gelernt, in diesem Haus, das so froh an der Sonne stand und das den ganzen Tag von Sibyllas trillernder Stimme erklang, von Frau Werners herzlichem Lachen, von Giulios Neckereien und des Meisters gutgelaunten Witzen, in diesem Haus, wo die Tage von frischer Arbeit und die Abende von fröhlichem Gespräch und Musik erfüllt waren.
    Daheim war das so anders. Vielleicht kam es von des Vaters strenger und knapper Art, vielleicht von der Mutter ängstlichem und schwarzseherischem Wesen, vielleicht auch von dem Hause mit den steilen dunkeln Treppen und den großen ernsthaften Stuben, wo die schwarzgrundigen Bildnisse ihrer Voreltern hingen — Zwingli mit dem scharfen überbeißenden Kiefer und seine Tochter, ernst und streng, wie aus Holz geschnitzt, Josias Simmler mit den dringlichen Forscheraugen und dann der Waseren Reihe: Bürgermeister, Professor, Antistes 3 und Amtmann, alle mit den erstaunten, ungleich geschwungenen Augenbrauen und feierlichen Bärten — diese Stuben, die so wenig Sonne tranken und die mit ihrem dunkeln geschnitzten Hausrat fast andächtig gewesen wären, wann nicht ein immerwährender Lärm von der stark belebten engen Gasse her jegliche Stille zerrissen hätte. In Rüti war es doch noch anders gewesen, frohmütiger und heller als in dem Stadthaus, das wohl nicht umsonst den fröstelnden Namen „zum grauen Mann“ trug.
    Aber vielleicht lag es auch an ihnen selbst, vielleicht hatten sie eine Art, die nicht so recht zum Frohsinn taugte. Sie dachte an Marias seltsames, wie von einer verhaltenen Glut durchströmtes Wesen. An des Bruders tiefsinnige Art, die

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