Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
Allee gewahrte sie Sibylla und Christoph, die sich mitten in einem Kreis junger Leute an einem modischen Ballspiele beteiligten, das jüngst einer der Kavaliere von Paris mitgebracht hatte. Eben flog der Ball Sibylla zu, die hochaufgerichtet dastand und ungeachtet des jungen, lebhaft um sie bemühten Morell mit suchenden Augen um sich blickte. Da entdeckte sie die beiden Herankommenden, und mit leuchtendem Blick warf sie Giulio den Ball zu: „Wie kommt Amor geflogen? Clef d’u! “
„Ungerufen!“ entgegnete dieser mit ernstem Gesicht, während die geschmeidige Hand den Ball in den Kreis jurückschickte.
Der junge Morell fing ihn auf und warf ihn mit demütigem und vielsagendem Blick seiner Dame zu: „Unerkannt!“ Aber der Ball verfehlte sein Ziel. Sibylla, die mit großen enttäuschten Augen nach Giulio hinüber starrte, hatte weder die Worte ihres Partners noch den Ball wahrgenommen, der nun herrenlos über den Boden hinrollte. Ein allgemeines Gelächter erhob sich über Sibyllas Ungeschicklichkeit, und unter mancherlei Neckerei bestürmte man sie um ein Pfand.
Giulio benutzte die kleine Verwirrung, um mit Anna wiederum im Gedränge unterzutauchen. „Kommt, Sorellina, ich mag nicht mitmachen da.“
Anna sah ihn prüfend an: „Ist Euch nicht wohl, Giulio? Sonst seid Ihr stets einer der ersten bei solchem Tun und einer der lebhaftesten!“
„Sonst — vielleicht — aber heute nicht.“ Er sah düster vor sich hin, und zwei scharfe Linien zeichneten sich zwischen die Brauen: „Heute ist das alles so dumm, so unsinnig! Nur mit Euch mag ich sein, Anna. Ach, wann ich meine Sorellina nicht hätte, meine kluge, stille Sorellina! Ihr seid doch wohl das Beste an allem — vielleicht das einzige Gute.“ Mit einer raschen Bewegung ergriff er Annas Hand und zog die ruhig Folgende aus dem Mittelgang nach dem vordersten Spazierweg zwischen den Linden und der festen Mauer am Rande der Plattform. Hier war das Gedränge kleiner, aber die Bewegung ungeordneter. Kleine Gruppen von Männern, die in leisen und hitzigen Reden sich ergingen, standen herum, und zwischen ihnen bewegte sich allerlei einfaches Volk, auch die Kammerjungfern und Diener der schönen Welt von drüben, die hier dem Spiel ihrer Herrschaften ein gröberes und unverblümtes Echo gaben.
Anna sah Giulio ernsthaft in die Augen: „Ihr habt keinen Brief von Donna Ersilia erhalten, nicht wahr?“
„Seit zwei Monden nicht,“ erwiderte er gepreßt, „und auch von dem Freunde weiß ich nichts mehr, auch Giacomino ist wie verschollen.“
„Und deshalb muß nun die ganze Welt schlecht sein? Und der armen Sibylla werft Ihr so unfreundliche Blicke und unhöfliche Worte zu, bloß weil eine Epistel ihren Weg nicht gefunden und irgendwo verloren gegangen ist auf der weiten Reis’?“
„Verloren? Wer’s glaubt! Und ich will auch nicht daran glauben!“ rief Giulio voll Ungestüm. „ Dio santo, zu denken, daß irgendwo auf der Welt solch ein herrlicher Brief liegt, von Donna Ersilias weißen Händen geschrieben, mit Donna Ersilias süßen und holden Worten. Ach, und Giulio kann ihn nicht finden, und ein anderer liest ihn und faßt die Küsse auf, die von Donna Ersilias roten Lippen zu Giulio hinüberwandern sollten … O Sorellina, zum Wahnsinnigwerden wäre das! Nein, nein, der Brief ist nicht verloren, darf nicht verloren sein, hört Ihr, Sorellina, er darf nicht verloren sein!“
„Dann bloß verspätet,“ gab Anna lächelnd zurück. „Der Bote hat ein Bein gebrochen irgendwo auf dem unwirtlichen Wege, und nun müssen Donna Ersilias Küsse so lange liegen bleiben, bis die alten Knochen zusammengewachsen sind. Natürlich, so ist’s gegangen; aber nun ist er doch wieder gesund, und morgen wird er kommen, ich spür’ es, gewiß, morgen werdet Ihr einen Brief von Donna Ersilias weißen Händen halten, aber die Küsse — ich fürchte, die werden derweil um ein kleines trocken geworden sein.“
Nun lachte auch Giulio. „Morgen, glaubt Ihr wirklich? Ach, dann will auch ich es glauben. Ihr habt ja immer recht, und oft schon habt Ihr Dinge vorausgewußt; so was gibt es doch bei feinen jungen Heiligen, wie Ihr seid, nicht wahr? Ja, nun glaube ich es ganz gewiß, morgen!“ Voll plötzlichen Übermuts warf er sich über die breite Mauer zurück, sodaß seine Locken ins Leere hingen.
„Wenn Ihr das tut, Giulio, dann lauf’ ich gleich zu den andern hinüber,“ rief Anna, der bei dem Anblick schwindlig wurde.
Rasch sprang der andere auf: „Hat die
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