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Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Anna Waser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Waser
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noch des alten Herrn rote Nase war, das ihr immer wieder den Pinsel aus der Hand nahm: „Lux, warum schreibst du nicht?“
    Sie zog den Brief hervor, den sie nun schon hundertmal gelesen und der — als letzter einer so herrlichen Reihe — seit drei Monaten ohne Nachfolge geblieben, und las wieder und wieder den einen Satz, den sie längst mit allen Einzelheiten der seltsamen, ungeordneten und widersprechenden Schriftzüge auswendig kannte: „Die Welt heraußen ist keine Alpwiese und keine Malstube, sondern gleicht mehr einem großen und wüsten Kessel, worein man geschmissen wird, und weiß keiner, wie er herauskommt, ob weichgekocht oder hartgesotten oder gar schwarz und rußig wie der Teufel; wärest Du aber bei mir, durch die Höll selbst wollte ich gehn und doch blank bleiben wie ein Engel … Und sollst Du mir viel und Liebes schreiben, ansonst ich nicht weiß, von wannen mir Stärke kommen soll und Rettung in dem Wirrsal.“
    Und sie hatte geschrieben, so oft und so voller Liebe; aber zuletzt ganz ernst: „Die Wahrheit will ich wissen, warum Du nicht antwortest, maßen ich es nimmer aushalte so.“
    Und nun wartete sie und wartete, und die Tage waren dunkel und kurz und die Nächte so lang …
    Sie nahm den Pinsel wieder zur Hand. Da hörte sie jemanden die Stiegen heraufkommen. Wie merkwürdig verschieden die drei Treppen tönten, die winklig und in gesonderten Richtungen zu ihrer Stube führten. Anna lauschte: Das war Marias müder Schritt. So kam sie nun jeden Tag zu ihr herauf: „Hier ist mir wohl; es ist so still, und du fragst nicht, nicht mit Worten und nicht mit Blicken,“ und dann setzte sie sich in die Fensternische mit irgendeiner Handarbeit. Anna aber mußte sich zusammennehmen, daß sie nicht immer wieder zu der Schwester hinüberblickte und verstohlen die weiße Strähne betrachtete, die ihr im schwarzen Haar mitten über der Stirn stand wie die Pfingstflämmchen auf den Köpfen der Apostel. Es war etwas Heiliges, dieses sichtbare Zeichen großen Schmerzes, aber auch etwas Grausenvolles, das einem das Herz zusammenzog und einem bang machte, daß man sich fremd fühlte in der eigenen Stube und daß die Arbeit nimmer gehen wollte. Wie oft hatte Anna nachträglich zerstört, was sie in Gegenwart der armen Schwester unter streitenden Gefühlen mühsam erschaffen!
    Maria trat ein. Sie hielt einen Brief in der Hand, einen Brief mit widersprechenden, unruhigen Schriftzügen. Anna wollte ihr entgegenstürzen, aber die Knie zitterten zu heftig. So mußte sie warten, ganz still auf ihrem Sessel, bis die andere bei ihr war. Und dann endlich hielt sie den Brief und konnte mit bebenden Fingern über die wirren, ach so lieben Züge streichen, die ihren Namen formten. Daß sie doch allein gewesen wäre, in diesem Augenblick nur. Sie konnte ihn doch nicht öffnen, so, wenn ein anderes dabei war. Aber dann plötzlich riß sie ihn doch auf, ungestüm und mit einer hastigen Bewegung, daß das Papier knisternd zerriß. Und sie las:
    „So Du aber die Wahrheit wissen willst, bedenk es: Wahrheit schmecket nimmer süß.
    Das Leben hat mich in die Hand genommen, und die Wege, die’s mich führt, sind solchergestalt, daß Deine zarten Füße sie nimmer gehen könnten. Und die Luft, die mich umgibt, ist heiß und schwer, daß Dein stolzer Mund sie nimmer atmen könnte, und steh’ ich da mit schwarzen rauen Händen, die Deine kühlen weißen Finger nimmer berühren dürfen. Ach, wären sie minder weiß und minder kühl, Deine Händ, vielleicht gäb’s heute noch einen Weg von Dir zu mir. Und wäre Dein Herz minder kalt und minder stolz Dein Mund und hätt’ er mich zu küssen vermocht, dann wär’ ich vielleicht nimmer auf diesen wirren heißen Weg geraten. So aber hast Du wohl eine Flamme zu entzünden, nicht aber sie zu stillen gewußt, und das Feuer ist groß geworden und ist ein fremder Wind hineingefahren und hat die Brücke zerstört, so zwischen uns lag.
    An Dich will ich denken in meinen besten Stunden als an etwas außer den Maßen Schönes und Hohes, das man wohl verehren, aber nimmer begehren soll, dieweil das Leben nicht rein und hoch ist, wie Du meinst, wohl aber heiß und gemein und am stärksten oft dort, wo es zutiefst führt. Dich aber wird es wenig gelüsten, nach mir Dich umzuwenden, maßen Deine Pfade hochgehn, die meinen aber erdwärts. Und magst Du mir auf diesen Brief, den Du als aus unwürdiger Hand kommend verbrennen sollst, nicht mehr antworten, dieweil ich morgen schon diese Stadt

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