Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
der Welt abschloß, sodaß man es nicht zu wissen brauchte, wann der Frühling draußen umging und mit hundert unbarmherzigen Fingern in neue Wunden griff und wann der Sommer mit Düften und Sonnengluten dem alten Weh neues Leben eingoß.
Und auch vor Maria war ihr nimmer bang. Es tat ihr wohl, das stille traurige Gesicht um sich zu sehen, aus dessen ernsten Augen ein wortloses Verstehen zu ihr sprach. Und das ganze stille Haus hier tat ihr wohl, darinnen das Leben nur gedämpft auftrat, als ob es Rücksicht nähme auf ein Totes, das irgendwo unsichtbar lag. Einst hatte sie davon geträumt, Freude da hineinzutragen, und nun war sie selber froh, daß man mit keinem Lustigsein sie bedrängte. Fröhlichkeit, sie hielt ja doch nicht stand, eines Tages lag sie doch am Boden, und wer mochte sie dann noch aufheben mit zerschlissenem und staubigem Gewand? Sie mußte an das Wernersche Haus denken, wie war es dort einst lustig zugegangen und laut, und heute? Klagerfüllt und trostlos waren Sibyllas Briefe, einer wie der andere. Die Fremde hatte ihnen kein Glück gebracht; schon die Reise war beschwerlich gewesen und voller Trübsal und hatte ihnen bittern Schaden zugefügt an Gut und Gesundheit. Und in Berlin, da war alles häßlich und unfroh und anders als sie gedacht. Der große Minister gefallen und an seiner Stelle ein kleiner und enger Mensch, der die Werke seines Vorgängers zerstörte und Herrn Werner um Stelle und Recht bringen wollte. Da gab es Kämpfe und Not und Verbitterung ohne End.
Einförmig und trüb wie Regentage reihten sich Sibyllas Briefe; aber einstmals brachte einer doch ein Wort, das wie ein Blitz in Annas Leben zündete: „Lukas Stark war da; er ist groß geworden und fest mit einem rötlichen Gesicht, darinnen der arme Giulio kaum mehr einen Dante erkennen möchte, und hat er meinem Vater nicht gar gefallen, indem er viel spöttischer und wilder Reden geführet, woraus man eine nicht immer gute Gesellschaft füglich erkennen konnte. Sonderlich seine leichtfertigen Worte, so er der Kunst gewidmet, haben meinen Vater geschmerzt. ‚Wozu soviel Kopfzerbrechens!‘ rief er mit höhnischem Lachen, als der Vater ihm von einem neuen, über die Maßen schwierigen Werke erzählte. ‚Früher, da hab’ ich auch Verse geschrieben und viel schwerer Gedanken mir gemacht über Kunst und Leben, aber jetzo weiß ich, daß ein guter Brotkorb mehr wert denn alle brotlosen Künst zusammen!‘ In Nürnberg will er nun in eines Glasermeisters Werkstatt treten, um allda mit Ätzen auf allerlei kostbarlich Glas ein angenehm Brot zu verdienen. Der hohen Kunst wie allem Edeln aber ist er nun wohl für immer verloren.“
Zweimal mußte Anna diese Worte lesen, bevor deren Sinn ihr verständlich wurde. War es möglich: Lukas, ihr stolzer, ehrgeiziger Lux, und nun auf diesen breiten gewöhnlichen Wegen! Oh, das war traurig, trauriger als alles andere. Und sie fühlte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen, nicht heiß und leidenschaftlich wie einst, sondern mild wie aus einem großen herzlichen Erbarmen heraus. Armer Lux! Ob man ihn nicht heute noch zurückrufen könnte? Aber er hatte sich ja selbst ihren Händen entwunden, und sie war machtlos. Sie dachte nach, wieviel sie gearbeitet in dieser Zeit und daß ihre Kunst stärker geworden und eigener und wie die Erfolge nun kamen, einer nach dem andern, und sie höher hoben von Jahr zu Jahr und daß er all die Zeit benutzt, um tiefer zu steigen und an einem glatten und öden Ufer zu landen. Der weiße Berg fiel ihr ein, den sie einst zusammen betrachtet, und Herrn Werners Worte. Wie weit vom hohen Ziel war er nun abgekommen. Und sie? Ein freudiger Schreck ergriff sie. War sie nicht durch all das tapfer niedergekämpfte Leid dem Ziele ein ganz klein wenig nähergekommen und durch die unermüdliche Arbeit, darin sie ihren Schmerz begrub? War es am Ende doch ein Glück gewesen, daß ihre Wege sich getrennt?
Langsam, langsam nahm ein neues Gefühl in ihr Platz und wuchs und trennte Gegenwart und Vergangenheit und ließ aus dem Mitleid für den neuen Lukas, der sie nichts mehr anging, Erinnerungen in wehmütigen und lieben Bildern wieder aufleben. Langsam wuchs sie über ihr eigenes Leid und das Schicksal dessen, der es ihr zugefügt, hinaus zu einer neuen Freiheit.
Und als Sibylla zum andern Mal Lukas’ Namen nannte, konnte sie ihn ruhig lesen und ohne Schmerz die Nachricht aufnehmen, daß er seinen Brotkorb nun sichergestellt und die Tochter des Glasermeisters zu
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