Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Anna Waser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Waser
Vom Netzwerk:
das wär’ ein Jammer!“
    Rudolf schwieg. Er warf den Kopf zurück und ruderte mit verdoppelter Kraft, daß die dunkeln Haare flatterten und das Schiffchen rasch dahinschoß. Auch die Mädchen redeten nicht. Elisabeth beugte sich über den Schiffsrand und ließ die Hand durchs Wasser gleiten, derweil Anna nachdenklich zu der Stadt hinüberblickte. Der Himmel war mählich blasser geworden, und auf der Erde verschwanden nach und nach die vielen Zierlichkeiten und lösten sich sachte in den großen kompakten Schatten, die mächtig um sich griffen und das Stadtbild zusammenschlossen. Drohend, mit besonders schwarzen Schatten erhoben sich links und rechts die gewaltigen Bollwerke der Bastion.
    „Wißt ihr,“ nahm Rudolf wieder das Wort, „was der Casperli Billeter sagte, als er ein Halbjahr neben mir im Collegio gesessen? ‚Ich vermeinte in einen Adlerhorst zu kommen,‘ sagte er, ‚nun aber bin ich in ein Krähennest geraten! Und dafür dank’ ich!‘ Und dann hat er sein Bündel gemacht, ist weggelaufen und sitzt nun auf einer Mühle, droben im Ried, und hab’ ihn schon oft um sein einsam und frei Leben beneidet.“
    Der Casperli Billeter. Anna sah plötzlich wieder den kleinen Pfarrbuben von Rüti vor sich mit dem frechen Stumpfnäschen und den runden hellen Augen, und ein starkes Heimweh kam sie an nach ihrer Kinderheimat, denen Zeiten, da sie mit dem flinken Jungen im Mühlbach geschwadert und durch die weiten summenden Kleefelder gelaufen war. Sie seufzte: „Weißt du noch, Rudi, wie uns zumut war, als wir von Rüti wieder hierherkamen, in die enge Münstergass’, zum grauen Mann, und sich uns die Mauern vor die Fenster stellten! Wie ein gefangen Vögelein war ich da, solches sich den Kopf an den Wänden blutig stößt. Ja, es ist schon schön, das Freiland und die Weite.“
    Rudolf ließ die Ruder stehen und sah Anna mit glänzenden Augen an: „Ja, die Weite … Weißt du, ich möcht’ einmal hinaus aus diesen Mauern und fort, weit, weit fort.“
    Anna nickte: „Im Land Italia gibt’s herrliche Städte, dort stehen Marmorbilder an grünen Wänden und mitts auf den freien Plätzen, und Straßen gibt es, die gehen lang und gerade den glänzenden Flüssen nach und führen einen dahin und dorthin, weit, weit hinaus und nicht immer nur in engen, heimtückischen Winkeln herum. Dorthin möcht’ ich.“
    „Und gen Mitternacht 2 ,“ fuhr Rudolf fort, „da gibt es Städte, da wohnen Menschen drin mit hellen und klugen Köpfen, die gehn den großen Geheimnissen nach und wissen, wie die Welt aus des Schöpfers Händen sprang und wie die Erde in den Ewigkeiten hängt — dorthin möcht’ ich.“
    Elisabeth betrachtete mit stillem Lächeln die älteren Geschwister: „Und ich wünsch’ mir nichts Liebers, als immer hier bleiben zu können in der schönen Stadt mit den stolzen Kirchen und den heimlichen Gassen und mit dem Lindenblust —und die sich so lieblich auftut auf den hellen, weiten See. Ihr aber werdet schon noch zu euern Wünschen kommen.“
    Rudolf lachte: „Wahr ist es, warum sollten wir beide nicht die Welt kennen lernen? Du, Anna, bist ja nun allbereits eine verrühmte Person, und wann die Fürsten erst bei dir bestellen, werden sie nimmer lang warten, bis sie dich zu sich rufen. Was meinst, Jungfer Hofmalerin? Ich aber, wann ich erst mein Examen hinter mir hab’, warum soll ich nicht in die Welt hinaus kommen wie andere auch? Da ist der Johannes Cramer. Seit zweien Jahren weilt er nun schon an äußeren Orten auf der Gnädigen Herren Kosten, und weiß der Himmel, wie lang er noch bleiben kann.“
    „Im Winter kommt er zurück,“ sagte Elisabeth leise und bog ihren feinen Kopf über den Schiffsrand hinaus, als ob sie im Wasser etwas suchte. „Es ist ihm eine Stell als Professor der Sprachen am Collegio sicher.“
    „Woher weißt dann du das?“ Rudolf betrachtete überrascht die junge Schwester, deren helle Wangen sich plötzlich dunkel färbten.
    „Er hat es geschrieben,“ antwortete sie schüchtern. Aber dann hob sie plötzlich den Kopf und sah den Bruder aus glücklichen Augen frei und groß an: „Er hat es mir geschrieben.“
    Anna und Rudolf gaben sich einen schnellen bedeutsamen Blick. Dann schwiegen sie alle. Sie hatten den Nachen gewendet und fuhren nun nach der Stadt zurück. Die Farben des Westens waren erloschen und hatten ein weißliches Himmelsstück hinterlassen, das einen silbrigen Schein weithin über die Wasser legte. So still war alles geworden auf einmal, so

Weitere Kostenlose Bücher