Die Geschichte der Deutschen
überflutet. Einen Augenblick wildes Drängen und Hochschreien; es soll dem österreichischen Gesandten gegolten haben. Nachher ein ähnliches Hoch beim bloßen Vorbeirollen eines Autos mit etlichen Offizieren. Nirgends unvergnügte oder auch nur ernste Gesichter. Soldaten strahlend ... Ein Trupp junger Burschen zog vorüber, Arm in Arm, ein hübsches Marschlied singend: ›Gott schütze unser Vaterland.‹ In der ersten Reihe ein blonder Junge von vielleicht achtzehn Jahren mit einer Glut in den starren, blauen Augen – ich habe so etwas noch nicht gesehen.«
Nicht anders sieht es in Petersburg, Paris oder London aus. Eine Massenhysterie |190| ist in Europa ausgebrochen. Die nationalistische Propaganda der letzten Jahrzehnte, die Verherrlichung von Krieg und Militär, die dekadenten Gewaltfantasien vieler Künstler und Intellektueller bündeln sich in diesen Wochen zu einem Rausch. Die bedeutenden Schriftsteller, Hochschullehrer oder Journalisten in Deutschland, aber auch in den Staaten der Entente lassen sich zu hassvollen Gedichten und Artikeln hinreißen. Der berühmte Dramatiker Gerhart Hauptmann reimt die schauerlichen Zeilen: »Es kam ein schwarzer Russ daher / Wer da, er? Deutschland wir wollen an deine Ehr! Nimmermehr!« Selbst der sanfte Erfolgsschriftsteller Stefan Zweig, der bald als glühender Pazifist gegen den Krieg aufbegehren wird, schreibt in den hektischen Augusttagen an seinen ins Feld ausrückenden Verleger: »Mein Neid ist aber bei Ihnen, Offizier sein zu dürfen in dieser Armee, in Frankreich zu siegen – gerade in Frankreich, das man züchtigt, weil man es liebt.« Im Oktober veröffentlichen prominente deutsche Professoren einen viel beachteten Aufruf, der die Verblendung auch der gebildeten Schichten anschaulich macht: »Es erfüllt uns mit Entrüstung, dass die Feinde Deutschlands, England an der Spitze, angeblich zu unseren Gunsten, einen Gegensatz machen wollen zwischen dem Geiste der Wissenschaft und dem, was sie den preußischen Militarismus nennen. In dem deutschen Heer ist kein anderer Geist als in dem deutschen Volke, denn beide sind eins, und wir gehören auch dazu ... Unser Glaube ist, dass für die ganze Kultur Europas das Heil an dem Siege hängt, den der deutsche ›Militarismus‹ erkämpfen wird.« In diesem Tollhaus der Kriegsbegeisterung erhebt sich kaum eine warnende Stimme. Zu Weihnachten seien sie wieder zu Hause, ruft Wilhelm II. den Soldaten zu und fast alle glauben das.
Am 4. August beordert der Kaiser die Reichstagsabgeordneten in den Weißen Saal des Alten Palais und verkündet ihnen offiziell, dass sich das Land im Kriegszustand befindet. »Ich kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche«, erklärt er pathetisch. Der Reichstag billigt einstimmig die notwendigen Kriegskredite. Vergessen sind die innenpolitischen Kämpfe der vergangenen Jahrzehnte, Patriotismus und Kriegsgeschrei einigt die Menschen. An das Hochgefühl dieses »Augusterlebnisses« werden sie sich noch lange erinnern. In den Jahren der Weimarer Republik greift die Propaganda der Nationalsozialisten es auf, wenn ihr Führer sich als Retter des Vaterlandes stilisiert.
Und die Sozialdemokraten? Die Sozialistische Internationale, ein Zusammenschluss europäischer Arbeiterparteien, erklärt noch kurz vor Kriegsausbruch, dass Arbeiter nicht auf Arbeiter schießen. Der französische Sozialistenführer Jean Jaurès setzt sich in den Vorkriegsjahren für eine deutsch-französische |191| Verständigung ein, was ihm den Hass der Rechten einträgt. Doch die Kriegsbegeisterung erfasst im August 1914 sogar große Teile der europäischen Arbeiterschaft. Jaurès wird am 31. Juli von fanatischen Nationalisten ermordet und die Internationale bricht auseinander.
Für die deutschen Sozialdemokraten ist Russland der Inbegriff despotischer Regierungsherrschaft. Schon August Bebel hatte einige Jahre vor seinem Tod erklärt, wenn es gegen den Zaren gehe, dann werde er auch als alter Mann noch das Gewehr schultern. Da Petersburg eine Kriegserklärung nach Berlin geschickt hat, schwenkt nun auch die SPD-Führung auf den offiziellen Kriegskurs ein. Alle politischen Lager in Deutschland reden sich ein, es gehe nicht um einen Angriffs-, sondern um einen Verteidigungskrieg des von Feinden umringten Vaterlandes. Das ist eine der vielen Verdrängungen und Lügen, mit denen die deutschen Eliten in den kommenden Jahrzehnten ihre Politik begründen werden.
Für die Arbeiterbewegung hat die Kriegsbegeisterung ein
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