Die Geschichte der Deutschen
werden.«
An diesem Punkt beginnt die Kriegsschuldfrage denn auch komplizierter zu werden, als es die Sieger 1918/19 wahrhaben wollen. Deutschland drängt zwar in den entscheidenden Juli-Tagen, aber die anderen Großmächte sehen im Krieg nicht weniger eine willkommene Chance, den Knoten europäischer Querelen mit einem Hieb zu durchschlagen und ihre territorialen Interessen endlich durchzusetzen. Der Streit zwischen Österreich und Russland um das Erbe des sterbenden Osmanischen Reiches auf dem Balkan hatte bereits zwei Kriege ausgelöst. Russland spielte dabei 1912 und 1913 nicht weniger eine aggressive Rolle als Österreich. Um ihre Ansprüche in dieser brodelnden Region zu wahren, unterstützten beide Staaten direkt oder indirekt die nationalen Aufstände der Balkanvölker gegen die osmanische Herrschaft. Friedlich gestimmt waren weder die Diplomaten in Petersburg noch die in Wien. Frankreich hatte in der Marokko-Krise von 1911 ebenfalls mit dem Feuer gespielt und beispielsweise den Italienern einen lange erhofften Anlass gegeben, Libyen zu besetzen. Zudem hatte Paris noch nie einen Hehl daraus gemacht, Elsass-Lothringen im geeigneten Augenblick mit militärischen Mitteln zurückzuerobern. England ist nur deswegen die am wenigsten auf Krieg drängende Macht in Europa, weil die Interessen Londons sich auf das Mächtegleichgewicht beschränkten und es keine Gebietsansprüche auf dem Kontinent hatte.
Praktisch alle europäischen Regierungen sehen in den Jahren vor 1914 im Krieg eine legitimes Mittel zur Fortsetzung ihrer Politik. Sie stürzen ihre Völker im August 1914 bedenkenlos in eine Schlacht, deren Ausmaß sie offenbar nicht überblicken können oder wollen. Deutschland spielt dabei einen wichtigen Part. Es glaubt, die Krise nach dem Attentat von Sarajevo sei eine günstige Gelegenheit, die »Weltpolitik« Kaiser Wilhelms II. zu realisieren. Der Generalstab beschwört den Kaiser und die Regierung nicht zu warten, denn in wenigen Jahren sei der Rüstungsvorsprung des Reiches von seinen Feinden eingeholt. Deutschland ist am 1. August 1914 also keineswegs, wie der Monarch und seine Diplomaten behaupten, ein an den Ereignissen unschuldiges Land, dass von den Nachbarn zuerst hinterlistig eingekreist und dann bösartig überfallen worden ist. Der britische Minister David Lloyd George macht anlässlich der Mobilmachungen |189| der Großmächte die melancholische und treffende Bemerkung: »In Europa gehen die Lichter aus.« Trotz aller Fehler und einer kaum nachvollziehbaren politischen Leichtfertigkeit in den wilhelminischen Jahren sind es jedoch nicht nur die Deutschen, die fahrlässig an den Schaltern geknipst haben.
Es ist wie bei einem Domino-Spiel. Als in Wien und Berlin die Entscheidung gefallen ist, fallen automatisch auch alle anderen Bündnisentscheidungen. Österreichs Kriegserklärung gegen Serbien löst die Mobilmachung in Russland aus. Im Gegenzug macht Deutschland mobil. Daraufhin überreicht der russische Botschafter in Berlin die Kriegserklärung. Frankreich muss Russland beispringen und erklärt Deutschland ebenfalls den Krieg. Die deutsche Führung und vor allem Reichskanzler Bethmann Hollweg bauen immer noch darauf, dass England neutral bleibt. Doch das Außenministerium in London lässt keinen Zweifel daran, dass das Land sofort an die Seite Frankreichs und Russlands treten wird, falls Deutschland die von den Briten garantierte Unverletzlichkeit der belgischen Grenzen nicht beachtet. Die Deutschen aber planen einen Überraschungsangriff mit mehreren Armeen in Nordfrankreich. Das geht nur, wenn die kaiserlichen Truppen durch Belgien marschieren. Ein Völkerrechtsbruch, der London zum weiteren Kriegsgegner macht. Bismarcks Albträume sind wahr geworden: Das Reich steht einer übermächtigen Koalition und einem Zwei-Fronten-Krieg gegenüber. Eine gewaltige Kriegswalze setzt sich in Bewegung.
Am 1. August 1914 sammeln sich Menschentrauben vor den Mobilmachungsplakaten. Die Berliner strömen vor das Schloss und bringen Hochrufe auf den Kaiser aus. Bleich und übernächtigt erscheint Wilhelm II. auf dem Balkon, hebt die Hände und ruft der Menge zu: »Nun empfehle Ich Euch Gott. Geht in die Kirchen, kniet nieder und bittet um Hilfe für unsere Soldaten!« Jubel brandet auf. Die Menschen tanzen auf den Straßen, die ersten ausrückenden Truppen werden mit Blumen geschmückt. Der Romanist Victor Klemperer, der diesen 1. August in Berlin miterlebt, notiert in seinem Tagebuch: »Der Bahnhof
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