Die Geschichte der Deutschen
Dieser dient als Offizier im kaiserlichen Heer, kämpft an der Seite des berühmten Prinzen Eugen von Savoyen vor Belgrad gegen die Türken und lebt, wenn er nicht im Feldlager ist, in Wien. Der jüdische Kaufmann und Karl Alexander verstehen sich gut. Süß Oppenheimer wird Schatullenverwalter des Erbprinzen und stellt ihm einen Kredit in Höhe von 80 000 Gulden zur Verfügung. Eine kluge Investition, denn als Karl Alexander Herzog wird, macht er den Wächter über sein Privatvermögen zum Geheimen Finanzrat. Oppenheimer unterstützt seinen Förderer in den Auseinandersetzungen mit den württembergischen Ständen und hilft ihm bei der Errichtung einer absolutistischen Herrschaft. Der Finanzrat ist Anhänger des damals |98| in vielen europäischen Staaten gültigen Merkantilismus, also eines vom Staat gelenkten Wirtschafts- und Handelssystems.
Oppenheimer verstärkt den Aufbau von Porzellan- und Seidenmanufakturen, gründet eine Bank und führt in Württemberg das Salz-, Wein- und Tabakmonopol ein. Für sich pachtet er eine Lotterie. Und nicht nur der Losverkauf an die Württemberger wird für ihn zu einem einträglichen Geschäft. All diese Unternehmungen kommen der Kasse des Herzogs und nicht zuletzt seinem eigenen Geldbeutel zugute. Als Oppenheimer beginnt das agrarische Württemberg in einen modernen Wirtschaftsstaat umzuwandeln, erfährt das Land einen ungeahnten Aufschwung. Doch die Neuerungen, die der Finanzrat einführt, haben ihre Schattenseiten, denn sie sind mit vielen Härten für die Landesbewohner verbunden. Heftige Widersprüche gegen Oppenheimers Politik werden laut, Neid und Missgunst regen sich, und rasch ist »der Jude« wieder an allem schuld.
Noch am Tag des plötzlichen Todes von Herzog Karl Alexander wird Joseph Süß Oppenheimer verhaftet. In einem langwierigen Staatsprozess werfen ihm seine selbst ernannten Richter vor, sich auf Kosten des Landes bereichert zu haben. Am Ende steht ein Willkürurteil: Vor den Toren Stuttgarts wird Oppenheimer am 4. Februar 1738 am Hohen Eisernen Galgen aufgehängt. In den folgenden Jahrzehnten beschäftigt sich eine Flut von judenfeindlichen Flugschriften und Broschüren mit den angeblichen »Verbrechen« des herzoglichen Hofjuden, was den allgemeinen Hass auf die Juden weiter schürt. Der deutsche Schriftsteller Lion Feuchtwanger, dessen Bücher von den Nazis verbrannt werden, schildert 180 Jahre später in seinem einfühlsamen und erfolgreichen Roman
Jud Süß
das traurige Schicksal Oppenheimers. Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels dagegen wendet die Geschichte ins Klischee vom gierigen und geilen Hofjuden und lässt in den Jahren des Zweiten Weltkriegs den antisemitischen Film
Jud Süß
drehen.
Nach dem Dreißigjährigen Krieg gibt es im Alten Reich mehr als 1800 Territorien, die einer eigenen Herrschaft unterliegen und – zumindest an den Höfen – ein prachtvolles Gegenbild zur Realität des Elends der einfachen Menschen errichten. Zu einer einheitlichen Nation kommt es im Zeitalter des Absolutismus nicht. Wegen dieser in unerreichbare Ferne gerückten politischen Einigung wird Johann Gottfried Herder noch im späten 18. Jahrhundert die These von der Kulturnation propagieren. Denn wenn es schon keine politische Einigung gebe, dann verbinde doch Literatur und Sprache alle Menschen, die in deutschen Landen |99| leben. In Wirklichkeit aber kocht jeder Fürst in Deutschland sein eigenes politisches Süppchen.
Auf die Frage, ob es für die Deutschen ein Unglück gewesen ist, dass sie im 17. und 18. Jahrhundert nicht wie die meisten europäischen Mächte einen Nationalstaat gebildet haben, lässt sich nur schwer eine eindeutige Antwort finden. Der Föderalismus hat sicherlich die kulturelle Vielfalt verstärkt und keineswegs zum Schaden des Selbstbewusstseins der Regionen gibt es in den einzelnen Ländern viele fruchtbare Eigenentwicklungen. Andererseits haben die vielen Zoll- und Mautgrenzen oder die unterschiedlichen Landesgesetze und -vorschriften den Handel und die Industrialisierung gebremst. Das Reich gerät gegenüber England und Frankreich wirtschaftlich ins Hintertreffen. Die ungeheure Dynamik der deutschen Wirtschaft entfaltet sich erst, als die Deutschen in einem geeinten Nationalstaat leben.
Manche Historiker führen den aggressiven und schließlich in die Diktatur des Dritten Reiches einmündenden deutschen Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert auf die »verspätete« Gründung des Nationalstaates zurück. Weil sie sich von den
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