Die Geschichte der Deutschen
Galizien einmarschieren, sobald Österreich eingreife. Die Drohkulisse überzeugt Kaiser Franz Joseph: Er lässt eine Neutralitätserklärung veröffentlichen. Dem von beiden Seiten umworbenen England geht es um die Unabhängigkeit Belgiens. Napoleon erklärt sofort, sein Land werde die belgischen Interessen respektieren. Bismarck aber hat ein handschriftliches Papier des französischen Botschafters in den Akten, in dem dieser einige Jahre zuvor eine gewaltsame Annexion Belgiens und Luxemburgs zur Debatte stellt. Dieses Geheimpapier spielt der Preuße der Zeitung Times zu, und in London denkt niemand mehr ernsthaft über eine Unterstützung Frankreichs nach. Bismarck hat richtig kalkuliert. Er ist sicher, dass es nicht zu einem großen europäischen Krieg kommen wird. London, Wien und Petersburg haben seine Erwartungen bestätigt.
Die süddeutschen Staaten stellen sich ebenfalls auf die Seite Preußens. Frankreich kann dort schon seit den Tagen, als die Truppen Ludwig XIV. die Pfalz verwüstet haben, nicht mehr mit großen Sympathien rechnen. Als 1840 die französische Regierung in innenpolitische Schwierigkeiten gerät, versucht sie sich durch eine nationalistische Außenpolitik zu retten. Sie gibt die Devise aus, der Rhein sei die natürliche Grenze Frankreichs. In Deutschland geht es sofort nicht weniger aufgeregt zu. Ein Herr Schneckenburger dichtet die bald an allen deutschen Stammtischen gesungene Wacht am Rhein: »Es braust ein Ruf wie Donnerhall, / Wie Schwertgeklirr und Wogenprall. / ›Zu Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein! / Wer will des Stromes Hüter sein?!‹ / Lieb Vaterland, magst ruhig sein, / Fest steht und treu die Wacht am Rhein!« Das gehört auch 1870 noch zum festen Liedgut deutscher Männer und Frauen. Als also die »Emser Depesche« in Bismarcks Fassung erscheint, da sehen das auch die Herrscher in München, Stuttgart oder Karlsruhe als eine Beleidigung der mächtigsten deutschen Dynastie an. Auch wenn sie Preußen nicht lieben, die süddeutschen Fürsten können die allgemeine Volksstimmung nicht übergehen.
Preußens Generalstabschef Helmuth von Moltke sucht eine schnelle Entscheidung. Die Eisenbahn ermöglicht einen raschen Truppenaufmarsch, und nach einigen erfolgreichen Gefechten schließen die Preußen die französische Hauptarmee in der Festung Metz ein. Ein zur Hilfe heranrückendes Heerescorps wird bei Sedan geschlagen. Napoleon III. gerät in Gefangenschaft und wird nach Kassel gebracht. Aber Sedan wird kein zweites Könggrätz. Die siegreiche Schlacht führt dieses Mal nicht zum Waffenstillstand. Es ist nicht wie früher ein reiner Krieg der Politik, also kein Kabinettskrieg, sondern ein Krieg der Nationen |164| , der auf französischem Boden ausgefochten wird. Die preußischen Eindringlinge stoßen auf erbitterten Widerstand in der Bevölkerung und werden in verlustreiche Gefechte verwickelt. Im September schließen die deutschen Truppen Paris ein. Frankreich ruft die Dritte Republik aus, und die Verteidiger der Hauptstadt halten fünf Monate durch. Bismarck ordnet die Beschießung der Stadt an und die Bewohner von Paris hungern.
Die Franzosen kapitulieren schon allein deswegen nicht sofort nach den Niederlagen in Metz und Sedan, weil sie den deutschen Ruf nach einer Angliederung der französischen Provinzen Elsass und Lothringen nicht überhören können. Am 28. Januar 1871 aber bricht der Widerstandswille zusammen. Entschädigungszahlungen in Höhe von 5 Milliarden Franken und Elsass-Lothringen sind der Preis, den Frankreich für die Niederlage zahlen muss. Den Verlust ihrer beiden Provinzen werden die Franzosen nie vergessen. Bismarck hat mit diesem Raub einen verhängnisvollen Fehler begangen. Immer muss das Deutsche Reich bei künftigen Bündnisfragen die Todfeindschaft Frankreichs voraussetzen. Wenn Deutschland im August 1914 beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs weitgehend isoliert dasteht und sich einer übermächtigen feindlichen Allianz gegenübersieht, dann nicht zuletzt auch, weil die Bismarcksche Tat von 1871 das Reich einholt.
An die Opfer und möglichen Folgen von Bismarcks Kriegspolitik denkt damals in Deutschland niemand. Das Reich lebt im Taumel. Am 18. Januar 1871, zehn Tage vor der Kapitulation Frankreichs, versammeln sich die deutschen Fürsten im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles und rufen das Zweite Deutsche Reich aus. Der preußische König wird als Wilhelm I. zum Kaiser proklamiert. Kurz vorher kommt es wieder einmal zu einer Szene zwischen dem
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