Die Geschichte Der Kinder Hurins. Sonderausgabe.
Morwen, auf Almosen angewiesen zu sein, doch um Túrins und ihres ungeborenen Kindes willen nahm sie die Hilfe an; außerdem, so sagte sie sich, stammten die Gaben aus ihrem Besitz. Eben dieser Brodda hatte sich nämlich der Menschen, der Güter und des Viehs von Húrins Ländereien bemächtigt. Er war ein rücksichtsloser Mann, der unter seinen Landsleuten wenig gegolten hatte, bevor sie nach Hithlum kamen. Von Habgier getrieben, eignete er sich diesen Besitz an, auf den sonst keiner seines Volkes Anspruch erhob. Er hatte Morwen einmal gesehen, als er auf einem Raubzug zu ihrem Haus ritt, doch bei ihrem Anblick hatte ihn große Furcht ergriffen. Er glaubte in die grausamen Augen einer Weiß-Furie geblickt zu haben, und ihn überkam ein tödlicher Schrecken, ein Unheil könnte ihn treffen. Da er ihr Haus nicht plünderte, entdeckte er auch Túrin nicht, sonst wären die Tage des Erben des wahren Fürsten gezählt gewesen.
Brodda machte die Strohköpfe, wie er die Leute von Hador nannte, zu Sklaven und ließ sich von ihnen in der Gegend nördlich von Húrins Haus eine hölzerne Halle bauen.Seine Sklaven waren wie Vieh in einem Gehege zusammengepfercht, doch sie wurden nur nachlässig bewacht. Unter ihnen fanden sich einige, die trotz aller Gefahr mutig und bereitwillig der Herrin von Dor-lómin halfen. Durch sie erhielt Morwen geheime Nachrichten aus dem Land, wenn diese auch kaum Anlass zu Hoffnungen gaben.
Brodda hatte Aerin zu seiner Frau gemacht und nicht zu seiner Sklavin; denn in seinem Gefolge gab es nur wenige Frauen und keine, die mit den Töchtern der Edain zu vergleichen gewesen wäre. Er hegte die Hoffnung, sich zum Fürsten dieses Landes aufzuschwingen, einen Erben zu haben und die Herrschaft an diesen weiterzugeben.
Darüber, was geschehen war und was in zukünftigen Tagen geschehen mochte, sprach Morwen nur wenig mit Túrin, und er selbst scheute sich, durch Fragen an ihr Schweigen zu rühren. Als die Ostlinge zuerst in Dor-lómin eingefallen waren, sagte er zu seiner Mutter: »Wann kommt mein Vater zurück, um diese garstigen Diebe aus dem Land zu jagen? Warum kommt er nicht?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Morwen. »Es kann sein, dass er gefallen ist oder dass man ihn gefangen hält. Vielleicht hat es ihn auch in die Fremde verschlagen, und er kann nicht zurück, weil die Feinde uns eingeschlossen haben!«
»Dann ist er bestimmt tot«, sagte Túrin und hielt vor der Mutter seine Tränen zurück. »Niemand könnte ihn davon abhalten heimzukommen, wenn er noch am Leben wäre.«
»Ich weigere mich zu glauben, dass eines von beidem wahr ist, mein Sohn«, sagte Morwen.
Mit der Zeit schlich sich Sorge um ihren Sohn Túrin, den Erben von Dor-lómin und Ladros, in Morwens Herz; dennsie sah voraus, dass es ihm nicht erspart bleiben würde, von den Ostlingen versklavt zu werden, wenn er im Land blieb. Deshalb erinnerte sie sich an ihr Gespräch mit Húrin, und ihre Gedanken richteten sich wieder auf Doriath. Schließlich erschien es ihr als das Beste, Túrin heimlich fortzuschicken, wenn es ihr möglich sein sollte, und König Thingol zu bitten, ihm Zuflucht zu gewähren. Und während sie dasaß und darüber nachgrübelte, wie sie es anfangen sollte, hörte sie deutlich die Stimme Húrins in ihrem Inneren sagen: »Säume nicht! Warte nicht auf mich!« Doch die Geburt des Kindes rückte näher, und der Weg würde beschwerlich und gefährlich sein. Je länger sie zauderte, desto geringer wurden die Aussichten zu entkommen. In ihrem Herzen nährte sie noch immer eine uneingestandene Hoffnung; denn eine geheime Stimme sagte ihr, dass Húrin nicht tot sei. In ihren durchwachten Nächten horchte sie auf das Geräusch seiner Schritte, oder sie wachte auf, weil sie im Hof das Wiehern seines Pferdes Arroch zu hören glaubte. Obwohl sie bereit war, ihren Sohn in den Hallen eines anderen aufziehen zu lassen, wie es zu jener Zeit Sitte war, wollte sie ihren Stolz dennoch nicht beugen und als Bittstellerin kommen, und sei es auch zu einem König. Deshalb widerstand sie der Stimme Húrins oder der Erinnerung daran, und der erste Faden zu Túrins Schicksal war gesponnen.
So rückte der Herbst im Jahr des Jammers heran, bevor Morwen zu ihrer Entscheidung gelangte, und es galt jetzt, rasch zu handeln. Sollte er abreisen, durfte sie keine Zeit mehr verlieren; denn sie befürchtete, man könne ihn fortholen, wenn sie auch noch den Winter verstreichen ließe. Ostlinge schlichen um den Hof und spionierten das Haus
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