Die Geschichte Der Kinder Hurins. Sonderausgabe.
erwiderte Túrin, »und vor langer Zeit habe ich in ihrem Haus gelebt. Nach langer Wanderschaft bin ich dorthin gekommen, um freundliche Aufnahme zu suchen, doch weder ihr Feuer noch ihr Gefolge ist jetzt dort zu finden.«
»Schon über ein Jahr lang ist dies so«, antwortete der alte Mann. »Seit dem todbringenden Krieg war in jenem Haus das Feuer kärglich und die Zahl der Menschen klein. Die Herrin gehörte nämlich zum alten Volk und war, wie du sicherlich weißt, die Witwe unseres Herrn Húrin, Galdors Sohn. Dennoch wagte man nicht, sie anzurühren, denn man fürchtete sie. Stolz und schön wie eine Königin war sie, bevor der Kummer sie zugrunde richtete. Sie nannten sie Hexenweib und wichen ihr aus. Hexenweib – damit meinen sie nichts anderes als ›Elbenfreundin‹. Aber man hat ihr nur wenig gelassen. Sie und ihre Tochter hätten oft Hunger gelitten, wenn nicht Frau Aerin gewesen wäre. Man sagte, sie habe sie heimlich unterstützt und sei dafür oft von Brodda, diesem Schuft, geschlagen worden, der sie zur Ehe gezwungen hatte.«
»Und was geschah vor diesem langen Jahr?«, fragte Túrin. »Sind sie tot oder versklavt? Oder haben die Orks sie erschlagen?«
»Man weiß es nicht mit Sicherheit«, erwiderte der alte Mann. »Aber sie ist mit ihrer Tochter fortgegangen, und dieser Brodda hat ihr Haus geplündert und alles geraubt, wasnoch übrig war. Nicht einmal ein Hund wurde verschmäht, und ihr kleines Gesinde wurde versklavt, außer einigen, die betteln gingen wie ich. Ich habe ihr viele Jahre gedient und zuvor dem großen Herrn. Sador Einfuß nennt man mich. Hätte es nicht vor langer Zeit in den Wäldern eine verfluchte Axt gegeben, läge ich jetzt im Großen Grabhügel. Ich erinnere mich gut an den Tag, an dem Húrins Sohn fortgeschickt wurde, und wie er weinte – und seine Mutter auch, nachdem er gegangen war. Man sagte, er sei ins Verborgene Königreich gegangen.«
Nach diesen Worten verstummte der alte Mann und blickte Túrin unsicher an. »Ich bin ein alter Mann, und ich schwätze viel«, sagte er. »Nimm nicht ernst, was ich sage! Aber wenn es auch Freude macht, in der alten Sprache mit jemandem zu reden, der sie so rein spricht wie in vergangenen Tagen, so sind doch die Zeiten schlecht, und man muss auf der Hut sein. Nicht alle, die die rechte Sprache sprechen, sind auch rechten Herzens.«
»Wahrlich«, sagte Túrin. »Mein Herz ist grimmig. Wenn du aber fürchtest, ich sei ein Spion aus dem Norden oder Osten, dann besitzt du weniger Klugheit, als du sie vor langer Zeit hattest, Sador Labadal.«
Der alte Mann starrte ihn entgeistert an. Dann sagte er mit zitternder Stimme: »Komm nach draußen! Es ist dort kälter, aber sicherer. Für die Halle eines Ostlings sprichst du zu laut und ich zu viel.«
Als sie auf den Hof getreten waren, umklammerte Sador Túrins Mantel. »Vor langer Zeit habt Ihr in jenem Haus gewohnt, sagt Ihr? Herr Túrin, warum seid Ihr zurückgekehrt? Endlich öffnen sich mir Augen und Ohren. Ihr habt die Stimme Eures Vaters. Doch der junge Túrin gab mir alsEinziger den Namen Labadal. Er hatte dabei nichts Böses im Sinn; denn in jenen Tagen waren wir gute Freunde. Was sucht er jetzt hier? Wir Übriggebliebenen sind wenige, wir sind alt und ohne Waffen. Jene im Großen Grabhügel sind glücklicher.«
»Ich bin nicht mit dem Gedanken an Kampf gekommen«, sagte Túrin, »obwohl deine Worte ihn jetzt in mir geweckt haben, Labadal. Aber das muss warten. Ich bin gekommen, um Frau Morwen und Nienor zu suchen. Was kannst du mir über sie sagen, und das rasch?«
»Wenig, Herr«, sagte Sador. »Sie gingen heimlich weg. Unter uns flüsterte man sich zu, Fürst Túrin habe sie gerufen. Wir zweifelten nämlich nicht daran, dass er mit den Jahren mächtig geworden war, ein König oder ein Fürst in irgendeinem Land des Südens. Doch es scheint, dass dem nicht so ist.«
»Es ist nicht so«, entgegnete Túrin. »Zwar war ich in einem Land des Südens ein Fürst, doch jetzt bin ich ein Landstreicher. Aber gerufen habe ich sie nicht.«
»Dann weiß ich nicht, was ich Euch sagen soll«, sagte Sador. »Doch zweifle ich nicht, dass Frau Aerin es wissen wird. Sie kannte alle Pläne Eurer Mutter.«
»Wie kann ich zu ihr gelangen?«
»Das weiß ich nicht. Es würde ihr viel Ungemach bringen, wenn man sie zwischen Tür und Angel mit einem wandernden Vagabunden ertappen würde, der dem unterjochten Volk angehört; wenn es überhaupt möglich sein sollte, sie mit einer Botschaft nach
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