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Die Geschichte eines Sommers

Die Geschichte eines Sommers

Titel: Die Geschichte eines Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wingfield Jenny
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Aber was auch immer sie gemeint hatte, er war sich sicher, dass es sich um eine leere Drohung handelte. Bernice konnte boshaft und hinterhältig sein, würde aber niemals ihre eigene Bequemlichkeit oder Sicherheit und schon gar nicht ihre Freiheit aufs Spiel setzen. Sie war in Richtung ihres eigenen Hauses davongefahren, und Samuel ging davon aus, dass sie dort auch eingetroffen war. Vermutlich würde sie morgen Abend beim Revival wieder auftauchen und ihm einzureden versuchen, er habe sich das Ganze nur eingebildet.
    Samuel überlegte, ob er Toy wecken und ihm von dem Zwischenfall berichten sollte. Doch was würde das bringen? Nur noch weitere Verstimmungen. Toy würde mit einer weiteren Portion Verdruss leben müssen, und Bernice würde alles so verdrehen, bis es sich anhörte, als wäre der Annäherungsversuch von Samuel ausgegangen.
    Also sollte er vielleicht besser schweigen. Manchmal war es vielleicht tatsächlich am besten, die Leute das glauben zu lassen, was sie zufrieden stimmt. Samuel bemerkte nicht, dass seine Überlegung genau die Art von Argumentation war, die er am meisten an der berühmten Moses-Ehrlichkeit hasste. Während er einschlief, dachte er noch, dass er den Morgen kaum erwarten konnte.

35
    Als Willadee sich im Morgengrauen die Treppe hochschleppte und ins Bett fiel, packte Samuel sie und klammerte sich wie ein Ertrinkender an ihr fest. Küsste ihr Haar, das nach Rauch stank. Küsste ihre Augen, die rot vor Müdigkeit waren. Küsste ihren Mund, ihren Hals, ihre Schultern und all die ihm vertrauten Gegenden, die er in letzter Zeit so vernachlässigt hatte.
    Sie versuchte sich von ihm loszumachen, aber er ließ sie nicht los.
    »Ich liebe dich«, sagte er. »Willadee, ich liebe dich so, wie ein Vogel den Himmel liebt.«
    »Aber ich rieche nach Rauch und Alkohol«, protestierte sie.
    »Das ist mir ganz egal, ganz und gar egal.«
    »Was ist passiert, Samuel?«
    Er fing an zu lachen. So laut, dass, falls jemand lauschte, er es durch die Wände hören konnte. Und selbst falls jemand lauschte, war Samuel auch das egal.
    »Ich hatte in dieser Nacht eine Vision«, sagte er. »Gott hat mir eine Vision geschenkt. Er hat mir so klar wie der helle Tag gezeigt, wie mein Leben ohne dich ausgesehen hätte.«
    Bernice wäre am liebsten aus der Haut gefahren. Wie eine Löwin im Käfig ging sie zu Hause auf und ab und weinte und schrie. So lange hatte sie geplant, wie ihr Leben mit Samuel aussehen würde, dass es nun, da ihre Pläne gescheitert waren, nichts mehr auf der Welt gab, was sie sich wünschte oder was ihr wichtig war.
    Eigentlich wollte sie nicht sterben, aber leben wollte sie auch nicht wirklich. Außerdem hatte sie Samuel gegenüber diese Bemerkung mit dem Gift fallen lassen und sich damit mehr oder weniger selbst unter Druck gesetzt. Die einzige Möglichkeit, wie sie ihr Gesicht wahren und gleichzeitig Samuel bestrafen konnte, schien zu sein, Selbstmord zu begehen oder es zumindest zu versuchen. Ganz bestimmt würde er sich die Schuld dafür geben, dass er sie so weit getrieben hatte, und wenn sich die Sache herumsprach, würden ihm alle anderen ebenfalls die Schuld dafür geben. Sein Ruf wäre beschmutzt, wenn nicht gar zerstört.
    Was aus ihrem eigenen Ruf wurde, war ihr dagegen ziemlich egal. Sie wusste genau, was die Leute in der Gegend seit dem Tod von Yam Ferguson über sie dachten. Dass man ihr heutzutage überhaupt so etwas wie Respekt erwies, hing einzig und allein damit zusammen, dass sie so ein Theater um ihre Religiosität gemacht hatte. Aber damit war jetzt Schluss. Solange Bernice geglaubt hatte, Samuel dadurch für sich gewinnen zu können, hatte es ihr Spaß gemacht, die Rolle zu spielen, doch sie würde nicht für den Rest ihres Lebens die Heilige mimen. Hätte Samuel ihre Erlösung wirklich am Herzen gelegen, dann hätte es für ihn reichlich Gelegenheiten gegeben, ihr zu helfen, den Pfad der Tugend nicht zu verlassen.
    Sie würde nicht im Columbia County bleiben. Sie würde nicht mal in Arkansas bleiben. Warum auch? Es musste doch einen besseren Ort als diesen hier geben. In ein paar Tagen würde sie sich auf die Suche machen.
    Doch eins nach dem anderen.
    Wie sie Samuel kannte, würde er furchtbare Qualen leiden und darüber nachgrübeln, was genau sie mit ihren Worten gemeint hatte, und sich fragen, ob sie sich womöglich etwas Verzweifeltes antun würde. Nach allem, was letzte Nacht passiert war, würde er sich wohl nicht trauen, selbst nach ihr zu sehen, dennoch war sie

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