Die Geschichte eines Sommers
überzeugt, dass er jemanden schicken würde.
Am nächsten Tag hatte Bernice spätnachmittags alles im Haus zusammengesucht, was giftig sein könnte, und auf dem Küchentisch aufgereiht. Bleichmittel, Ammoniak, Drano-Abflussreiniger, Möbelpolitur, Bohnerwachs, Rattengift, eine kleine Flasche Miltown-»Glückspillen«, die der Arzt ihr verschrieben hatte, als Toy ins Krankenhaus eingeliefert worden war, und eine große Flasche Cardui-Tonikum, die Calla ihr gegeben hatte, als sie mal behauptet hatte, Probleme mit ihren Tagen zu haben.
Die Entscheidung, was sie davon nehmen sollte, war einfach. Abgesehen davon, dass sie nicht sterben wollte, wollte sie auch nicht leiden, während sie darauf wartete, gerettet zu werden. Haushaltsmittel konnten somit von vornherein ausgeschlossen werden, um der Wirkung willen ließ Bernice sie dennoch auf dem Tisch stehen. Wer auch immer nach ihr sehen kam, würde für den Rest seines Lebens davon reden, wie gut es doch gewesen war, dass sie nicht das Bleichmittel getrunken oder das Rattengift gegessen hatte, denn dann wäre sie nicht mehr zu retten gewesen. Aus Spaß öffnete sie trotzdem die Dose mit dem Rattengift und legte sie auf die Seite, sodass etwas davon auf die Tischplatte rieselte.
Der Plan war, nur ein paar der Miltown-Pillen zu schlucken – und die auch erst dann, wenn ihr Retter bereits durch die Haustür kam. Schließlich hatte es keinen Sinn, das Schicksal herauszufordern. Bernice hatte nie viel getrunken, weil Alkohol ihr zu schnell zu Kopf stieg, jetzt aber brauchte sie etwas gegen die Krämpfe in ihrem Magen. Sie nahm sich eine Flasche aus Toys Schnapsvorrat, der im Gästezimmer lagerte und aus der Zeit stammte, in der er noch Alkohol geschmuggelt hatte. Anschließend nahm sie ein heißes Bad, bei dem sie mehr als die halbe Flasche vernichtete.
Als Bernice an diesem Abend nicht beim Revival auftauchte, wusste Samuel nicht, ob er beunruhigt oder erleichtert sein sollte. Die Temperatur war unter den Gefrierpunkt gefallen, und die Leute, die sich warm angezogen hatten und trotz der Kälte gekommen waren, begannen, während er die Instrumente stimmte, zu fragen, wo denn Bernice sei und weshalb sie zu spät komme. Er konnte ihnen nur antworten, er habe den ganzen Tag nicht mit ihr gesprochen und hoffe sehr, dass sie sich nicht erkältet oder gar eine Grippe eingefangen hatte. Allmählich beherrschte er die Moses-Ehrlichkeit immer besser.
Dennoch wurde Samuel den Gedanken nicht los, dass jemand zu Bernice fahren und nach ihr sehen sollte. Er wäre zwar jede Wette eingegangen, dass alles in Ordnung war, hätte sich aber sein Leben lang Vorwürfe gemacht, wäre ihr tatsächlich etwas passiert und hätte er nicht versucht, ihr zu helfen.
Toy konnte er nicht schicken. Er hatte schon so viel durchgemacht und sollte sich nicht auch noch Sorgen über Probleme machen, die höchstwahrscheinlich gar nicht existierten. Willadee arbeitete in der Bar, aber dessen ungeachtet käme nichts Gutes dabei heraus, würde man Bernice und Willadee jetzt aufeinander loslassen. Da Calla nicht Auto fahren konnte, kam sie ebenfalls nicht infrage. Damit blieb praktisch nur noch die Polizei oder einer der hier Versammelten. Doch Samuel gefiel die Vorstellung nicht, einen der Anwesenden in die Sache hineinzuziehen. Es mochten zwar die nettesten Menschen der Welt sein, aber sie gehörten nicht zur Familie.
Auch Bootsie Phillips war kein Familienmitglied, und trotzdem fiel Bootsie Samuel plötzlich ein. Zuerst hielt er das für die verrückteste Idee, die er je gehabt hatte, doch dann erinnerte er sich, dass Willadee ihm kürzlich erzählt hatte, Bootsie habe sich seit dem Tag, an dem Toy angeschossen worden war, deutlich verändert. Er trank nicht mehr ganz so viel, sagte häufig Dinge, die recht vernünftig klangen, und hatte sich zu Willadees persönlichem Beschützer ernannt, seitdem sie im »Never Closes« arbeitete.
Samuel sah sich nach Noble um und winkte ihn zu sich. Noble, der sich freute, seinem Daddy behilflich sein zu können, sprang auf die Bühne, und Samuel legte seinen Arm um ihn und flüsterte ihm ins Ohr.
»Lauf rüber ins ›Never Closes‹, und bring Bootsie Phillips her.«
Noble glaubte, nicht richtig verstanden zu haben.
» Bootsie? Was willst du denn mit …?« Doch Samuels Gesichtsausdruck erinnerte ihn daran, wer von ihnen das Kind und wer der Erwachsene war. »Und wenn er nicht da ist?«
»Die Bar hat geöffnet, Noble, also ist er auch da.«
»Ich dachte, es wäre
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