Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geschichte eines Sommers

Die Geschichte eines Sommers

Titel: Die Geschichte eines Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wingfield Jenny
Vom Netzwerk:
weil sie für nichts etwas berechneten, also konnte auch niemand behaupten, sie würden den Laden aus Habgier offen lassen. Aber wenn nun jemand im Ort eine Kanne Milch brauchte, sagten sie sich. Oder ein bisschen Whiskey. Wenn jemand erkältet war, so ging nichts über Zitronensaft mit Zucker und Whiskey, um ihn für eine Weile von seinen Qualen zu erlösen. Zwar war jetzt nicht gerade die Jahreszeit für Erkältungen, aber man konnte ja nie wissen.
    Toy kümmerte sich um den Laden. Er mochte eh keine Begräbnisse. Für ihn war das nur ein Beispiel dafür, wie die Leute stets versuchten, die Erwartungen anderer zu erfüllen. Als Walter gestorben war, war Toy mit seinem .22er Gewehr im Wald verschwunden und hatte aufs Geratewohl auf Eichhörnchen geschossen, während der Rest der Familie das tat, was von ihm erwartet wurde. Toy hatte geglaubt, dass der Geist seines Bruders noch immer irgendwo in der Nähe war, dass Walter vielleicht ein paar Dinge belasteten, die er schon längst hatte sagen wollen, aber nie dazu gekommen war. Also ging Toy in den Wald und lauschte. Er und Walter hatten schon als blondschöpfige Kinder in diesen Wäldern gejagt. Die beiden hatten sich sehr nahegestanden, waren weit mehr gewesen als nur Brüder.
    Toy kannte alle Baumstümpfe und umgefallenen Stämme, auf denen Walter gerne gesessen, eine Zigarette geraucht und die Stille genossen hatte. Also hatte Toy genau das Gleiche getan. Immer wieder ungefähr eine Stunde lang. Und wenn ihm die Stille zu viel wurde, wenn er es nicht mehr aushielt und sein Brustkorb von den vielen Tränen, die er nicht vergossen hatte, zu zerspringen drohte, zerstörte Toy Ephraim Moses die Ruhe mit ein, zwei Schüssen aus seinem Gewehr. Wenn er etwas traf, okay.
    Toy hoffte, dass Bernice ihn überleben würde. Falls sie vor ihm sterben sollte, würde er sich um die Beerdigung auf keinen Fall drücken können, und er fürchtete, dass er am Ende noch auf die Trauergäste schießen würde.
    Swan erfuhr früh am Morgen vor der Trauerfeier, dass Onkel Toy nicht mitkommen würde.
    »Onkel Toy hat überhaupt keinen Respekt für die Toten«, hatte Lovey beim Frühstück gesagt. Lovey war die jüngste Tochter von Onkel Sid und Tante Nicey. Sie war zehn Jahre alt und total verzogen. Gestern Abend hatte sie darauf bestanden, auf der Farm zu übernachten. Hauptsächlich, damit sie Swan und ihren Brüdern unter die Nase reiben konnte, wie viel besser als die drei sie Papa John gekannt hatte, und um ihnen ein schlechtes Gewissen zu machen, weil sie nicht so viel geweint hatten, wie sie es ihrer Meinung nach hätten tun sollen. Sie hatten zwar ein paar Tränchen verdrückt, aber das war nichts im Vergleich zu den vielen Litern, die Lovey vergossen hatte. Vielleicht waren die drei ja auch deshalb nicht wirklich traurig, weil Papa John für sie immer ein Fremder geblieben war.
    »Halt mal schön den Mund, mein Fräulein«, hatte Oma Calla zu Lovey gesagt. »Dein Onkel Toy hat eben so seine Eigenarten.«
    Swan hatte, so lange sie sich erinnern konnte, von Onkel Toy und seinen Eigenarten gehört. Zum einen war er ein Alkoholschmuggler – nicht dass Swan genau gewusst hätte, was das eigentlich war, aber sie wusste, dass es verboten war und gefährlich sein konnte. Doch wenn Onkel Toy unbedingt gegen das Gesetz verstoßen wollte, warum hatte er dann nicht einfach mit Papa John im »Never Closes« gearbeitet? Das wäre doch eine vernünftige Lösung gewesen, aber Toy hatte eben seine Eigenarten, wie Oma Calla sagte.
    Er war im Krieg gewesen und mit einem Orden für Tapferkeit ausgezeichnet worden, weil er durch feindliches Feuer gerannt war, um einen Kameraden zu retten. Auch noch einen Farbigen. Dabei war er angeschossen worden. Ein Bein war ihm komplett weggepustet worden, weshalb er so steif ging, denn sein künstliches Bein gab nicht nach. Doch über Onkel Toy wurde nicht nur geredet, weil er Alkohol schmuggelte, obwohl er problemlos in einer Bar hätte arbeiten können, und weil er sich ein Bein hatte wegschießen lassen, um einen Neger zu retten. Er hatte außerdem einen Mann getötet, direkt im Columbia County. Einen Nachbarn namens Yam Ferguson, dessen Familie »Beziehungen« hatte. Yam hatte nicht in den Krieg gemusst. Er konnte zu Hause bleiben und sich um den Familienbetrieb, die Ferguson-Sägemühle, kümmern und nebenbei den Frauen und Freundinnen der jungen Männer nachstellen, deren Familien nicht so gute Beziehungen hatten. Yam hatte zwar den Krieg überlebt, aber

Weitere Kostenlose Bücher