Die Geschichte eines Sommers
nicht die Nacht, in der Onkel Toy aus dem Militärkrankenhaus entlassen worden war. Die Einzelheiten, die Swan darüber in Erfahrung gebracht hatte, waren allerdings ein wenig vage.
Während sich die Familie für das Begräbnis umzog, beschloss Swan, ebenfalls nicht mitzugehen. Sie machte sich zwar wie alle anderen fertig, erzählte ihrer Mutter aber, sie würde mit Tante Nicey fahren, und Tante Nicey, sie würde mit Tante Eudora fahren. Als alle anderen in die Autos stiegen, die in einer Reihe vor dem Laden parkten, schlich Swan sich die Treppe hinauf in Papa Johns Schlafzimmer. Sie wollte nicht das Bett sehen, auf dem Papa John gesessen hatte, um das zu beenden, was er unter jenem Baum begonnen hatte. Sie wollte auch nicht die Wand sehen, die die Nachbarsfrauen wieder sauber geschrubbt hatten. Und schon gar nicht wollte sie die Bibel sehen, die auf dem Nachttisch lag. Die Vorstellung, dass Papa John die Heilige Schrift in greifbarer Nähe gehabt hatte, als er seine Tat ausführte, ließ sie erschauern. Es kam ihr so vor, als hätte er Gott damit unbedingt ein letztes Mal beleidigen wollen. Swan hatte keinen Zweifel daran, dass Papa John bereits in der Hölle schmorte, falls Gott ihm nicht aus irgendeinem Grund Unzurechnungsfähigkeit zugestand. Aber wozu brauchte man dann eine Hölle, wenn man Leute bereits wegen solcher Formsachen davonkommen ließ?
Also sah Swan sich gar nichts im Zimmer an. Sie hatte das Gefühl, wenn sie irgendwo hinguckte, würde sie Papa John dort noch so sehen, wie seine Söhne ihn gefunden hatten, und dieses Risiko wollte sie auf keinen Fall eingehen. Papa John war schon zu Lebzeiten unheimlich genug gewesen.
Swan ging zum Fenster und beobachtete durch die Gardinen, wie die Auto-Karawane sich in Bewegung setzte. Nachdem sich der rote Staub hinter dem letzten Wagen gelegt hatte, schlich Swan wieder die Treppe hinunter. Durch die offene Tür im Wohnzimmer konnte sie in den Laden sehen.
Dort lehnte sich Onkel Toy gegen die Theke und schälte mit seinem Taschenmesser die Rinde von einem Stock, den er von einer seiner Wanderungen durch den Wald mitgebracht haben musste. Eine brennende Camel hing zwischen seinen Lippen. Er rauchte, ohne sie aus dem Mund zu nehmen. Swan blieb in der Tür stehen und beobachtete ihn. Sie war sicher, dass er von ihrer Anwesenheit wusste, obwohl er weder aufblickte noch etwas sagte.
Schließlich betrat Swan leise den Laden, kletterte auf die Eiscremetruhe und begann mit einer Schuhspitze am Absatz ihres anderen Schuhs herumzureiben. Toy blickte auf und sah sie durch eine bläulich weiße Rauchwolke an.
»Du magst wohl auch keine Beerdigungen.«
»Ich war noch nie auf einer.« Swan log natürlich, denn Kinder von Predigern nahmen häufiger an Beerdigungen teil als alle anderen Kinder auf der Welt. Das musste Toy doch auch wissen.
»Tja …« Toy ließ das Wort eine Weile im Raum stehen, als wäre damit alles gesagt, während er eine kleine Unebenheit an dem Stock beseitigte. »Da hast du nicht viel versäumt«, sagte er schließlich.
Swan hatte befürchtet, er würde etwas typisch Erwachsenes sagen wie etwa: »Weiß denn deine Mama, dass du hier bist?« Da er das jedoch nicht tat, fasste sie sofort starkes Vertrauen zu ihm. Swan sehnte sich danach, jemandem nahe zu sein. Wirklich nahe, bis in die tiefste Seele. Sie wünschte sich eine Freundschaft, in der zwei Menschen sich in- und auswendig kannten und – komme, was wolle – füreinander einstanden. Bisher hatte sie so etwas noch nie erlebt und war überzeugt, dass das nur daran lag, dass ihr Vater Prediger war.
Swans Beobachtungen nach gab es eine Art Verschwörung unter den Gemeindemitgliedern, die alles taten, um dafür zu sorgen, dass der Prediger und seine Familie sie nicht allzu gut kennenlernten. Wenn sie jemanden besuchten, wurden Spielkarten versteckt. Alkohol wurde in der Speisekammer hinter die Gläser mit selbst eingemachten Erbsen und grünen Bohnen geschoben. Das Wort »tanzen« wurde nicht einmal erwähnt! Die Leute wussten halt rein gar nichts über Sam Lakes Vergangenheit – aber Swan wusste dafür so einiges. Sie hatte gehört, dass ihr Daddy früher, bevor Gott ihn sich gekrallt hatte, ein ganz lockerer Bursche gewesen war. Samuel Lake hatte in seiner Jugend zahlreiche Schuhsohlen durchgetanzt und seinen Anteil Whiskey gekippt.
»Seinen Anteil und den von allen anderen gleich mit«, pflegte Willadee grinsend zu sagen. Willadee war nicht die Sorte Frau, die darauf bedacht war, den Ruf
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