Die Geschichte eines Sommers
zupass, sie und die vier anderen Tiere, die er von der Weide geholt und in den Pferch nebenan gesperrt hatte.
Ras fühlte sich prächtig. Selbstsicher und vollauf mit sich zufrieden. Als er vorhin das Mädchen verlassen hatte und wieder frische Luft geatmet hatte, hatte er den Kopf unter den Wasserhahn gehalten. Genau das, was ein Mann brauchte, um sich lebendig zu fühlen.
Gleich würde er wieder zu dem Mädchen gehen. Sobald ihre Familie hier herumgeschnüffelt und sich vergewissert hatte, dass sie nicht hier war. Auf diese Gelegenheit hatte er schon lange gewartet, schon seit dem Tag, als er sie zum ersten Mal vor dem Laden gesehen hatte, damals, als der alte John Moses beerdigt worden war. Immerhin hatte er gewartet, bis sie anfing zu erblühen. Das musste er sich zugutehalten. Wie er die Dinge sah, hatte er sich absolut richtig und ehrenwert verhalten.
Als Samuels alte Klapperkiste knatternd auf den Hof fuhr, hob Ras grüßend die Hand. Samuel sprang aus dem Auto und rannte auf ihn zu. Die Hunde sträubten kurz die Nackenhaare, gingen dann aber Samuel aus dem Weg. Ballenger war über ihr Verhalten überrascht, sah Samuel aber dennoch lächelnd an.
»Wie geht’s, Prediger? Wo brennt’s?«
»Ich suche meine Tochter«, sagte Samuel.
Seine Stimme zitterte – genauso wie er selbst. Er zitterte am ganzen Körper. Ras verließ den Pferch, schob den Riegel vor, baute sich vor Samuel auf und tat verblüfft.
»Ihre Tochter kommt nicht zum Spielen hierher, Prediger. Mein Sohn im Übrigen auch schon lange nicht mehr. Ich hab gedacht, die beiden wären bei Ihnen drüben.«
»Haben Sie sie gesehen?«
Ras schüttelte den Kopf, kratzte sich am Hals und seufzte bedauernd.
»Ich würd’ Ihnen ja wirklich gern helfen, aber ich fürchte, Sie sind bei mir an der falschen Adresse.«
Samuel hatte keine Ahnung, dass Ras mit seinen Worten Toy Moses nachäffen wollte, aber er bemerkte, dass der Mann die Situation genoss.
»Könnte ich vielleicht mit Ihrer Frau sprechen?«
Ras neigte den Kopf ein wenig zur Seite, als wollte er sagen, dass es ihm gar nicht gefiel, für einen Lügner gehalten zu werden. Trotzdem war sein Tonfall noch einigermaßen höflich. »Das könnten Sie wohl, wenn sie hier wäre, aber sie ist heute bei ihrer Mutter. Die machen sich gegenseitig ’ne Dauerwelle.«
Samuel schaute sich um und ließ den Blick in alle Richtungen schweifen auf der Suche nach irgendwelchen Hinweisen oder Verstecken. Das war alles, was er tun konnte, um nicht aus der Haut zu fahren und die ganze Bude hier auseinanderzunehmen.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich ein bisschen umschaue?«
»Und ob ich das hab«, sagte Ras. »Aber wenn’s Sie beruhigt«, fügte er dann hinzu und machte eine ausladende Armbewegung. »Nur zu.« Dann fragte er leutselig: »Wie heißt Ihre Tochter überhaupt?«
»Swan«, sagte Samuel. »Ihr Name ist Swan.«
Ras legte die Hände an den Mund und begann lauthals zu brüllen.
» SWAN ? BIST DU HIER IRGENDWO , SWAN ? DEINE ELTERN MACHEN SICH SORGEN UM DICH , SWAN !«
Auch Samuel schrie, so laut er konnte.
» SWAN ! SWAN ! SWAN , KANNST DU MICH HÖREN ? SWANNNNNNNNNNNN !«
Natürlich erhielten sie keine Antwort.
Doch Swan hörte sie. Sie hörte beide rufen, zerrte an ihren Fesseln und versuchte zu schreien – HIER BIN ICH ! ICH BIN HIER ! –, doch nicht ein Ton kam über ihre Lippen. Das einzige Geräusch, das sie wahrnahm, war das Klopfen ihres Herzens, das jubilierend hämmerte. Ihr Vater war gekommen, um nach ihr zu suchen! Ihr Vater, der immer versuchte, das Richtige zu tun, und dabei auf Gott vertraute. Ihr Vater, der jeden Tag in Gottes Gunst stand.
Aber dann kam ihr ein schrecklicher Gedanke. Früher hatte er tatsächlich in Gottes Gunst gestanden, aber in letzter Zeit hatte Gott nicht mehr allzu oft auf ihn herabgelächelt, und auch die Ergebnisse seiner Arbeit, bei der Samuel noch immer auf Gott vertraut hatte, waren nicht gerade überwältigend gewesen.
Ras Ballenger zuckte mit den Schultern, als wäre die Sache damit erledigt, und begann wieder seine Pferde zu striegeln.
Die Gelassenheit des Mannes machte Samuel schier rasend und bestärkte ihn nur in seiner Überzeugung, dass Swan irgendwo in der Nähe sein musste. Er lief wie ein Wilder herum, rief immer wieder ihren Namen und suchte überall nach ihr. In der Scheune. In der Futterkammer. In der Sattelkammer. Auf dem Futterplatz. In einem offenen Schuppen. Unter dem Haus. Er ging sogar ins Haus hinein und lief von Zimmer
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