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Die Geschichte eines Sommers

Die Geschichte eines Sommers

Titel: Die Geschichte eines Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wingfield Jenny
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gemerkt, dass sie dort war.
    Swan überlegte sich manchmal, worüber Tante Bernice wohl nachdachte, wenn sie ganz allein da draußen saß. Einmal hatte sie sie danach gefragt, und Tante Bernice hatte ihr Haar im Nacken angehoben und gemurmelt: »Hm? Ach, über alles Mögliche.«
    Jedenfalls kam die Schaukel als Platz zum Nachdenken nicht infrage. Swan ließ sie links liegen, überquerte den Hof und ging dann an den Fahrzeugen vorbei, die planlos zwischen Haus und Straße parkten. Seit über einer Stunde trudelten bereits die Stammgäste vom »Never Closes« ein.
    Normalerweise wäre Swan jetzt um die Kneipe herumgeschlichen und hätte versucht, heimlich einen Blick hineinzuwerfen. Ihr und ihren Brüdern war das streng verboten, aber sie taten es natürlich trotzdem, sooft sich ihnen die Gelegenheit dazu bot. Bisher hatten sie allerdings nichts Bemerkenswertes dabei entdeckt und hätten das Projekt auch längst aufgegeben, wäre es nicht verboten gewesen. Die Tatsache, dass es verboten war, musste ja schließlich irgendetwas zu bedeuten haben, also machten sie weiter.
    An diesem Abend war Swan jedoch nicht nach Spionieren zumute. Stattdessen wollte sie nur ungestört sein. Als sie die Straße erreichte, ging sie weiter über den mit Gras bewachsenen Seitenstreifen. Selbst nachdem sie den Lichtschein des Hauses und der Bar hinter sich gelassen hatte, konnte sie noch sehr gut sehen. Es war fast Vollmond. Bisher war ihr nicht klar gewesen, dass der Mond genug Licht ausstrahlen konnte, um die Erde zu erhellen. Allerdings hatte sie sich auch noch nie im Dunkeln so weit von ihrer Familie entfernt. Aber es war ja gar nicht dunkel. Die Nacht war fast hell.
    Während sie die leicht kurvige Straße entlangging, kam Swan zu dem Schluss, dass sie überhaupt keinen Ort zum Nachdenken brauchte. Wer brauchte schon einen Ort, wenn man einfach immer weitergehen konnte, einen Fuß vor den anderen setzen und es genießen konnte, nirgendwohin zu gehen.
    Mittlerweile war sie sich über die Situation ihres Vaters ziemlich gut im Klaren. Im ersten Moment, als ihr bewusst geworden war, dass ihre Familie von nun an kein Einkommen und auch kein Haus zum Wohnen haben würde, hatte sie sich schuldig gefühlt, weil sie sich gewünscht hatte, dass ihr Leben anders wäre. Vielleicht passierte so etwas ja, wenn man sich etwas wünschte, worüber man nicht genug wusste.
    Doch die wirkliche Tragweite der Situation war ihr entgangen. Da die Familie Lake ohnehin alle ein bis zwei Jahre umgezogen war, war es nicht so, als würde man ihnen nun ihre Wurzeln nehmen. Sie hatten keine Wurzeln. Andererseits war Swan der Meinung, dass Erwachsene jeden Tag Probleme lösten. Dazu waren Erwachsene schließlich da. Und im Übrigen nahm sie an, dass das, was geschah, Gottes Wille sein musste. Hatte ihr Daddy nicht immer wieder gepredigt, Gott habe einen Plan und für diejenigen, die Gott liebten, würde sich immer ein Weg finden? Ihre Eltern liebten Gott ganz gewiss. Auch Swan tat das, selbst wenn sie seine Gebote ziemlich regelmäßig missachtete und nur betete, wenn es wirklich wichtig war. Sie war einfach niemand, der Gott mit dem alltäglichen Kleinkram belästigte.
    Wenn man es richtig bedachte, dann garantierte die Bibel einem doch, dass das Ganze gut ausgehen würde, also brauchte sie sich jetzt auch kein schlechtes Gewissen zu machen.
    Sie atmete die vom Duft nach Geißblatt erfüllte Luft tief ein. Das hohe Gras bog sich unter ihren Füßen und richtete sich hinter ihr wieder auf. Sie hatte noch keine Lust umzukehren, dieser Augenblick war viel zu köstlich. Vor ihr zweigte ein schmaler Weg links von der Hauptstraße ab. Sie wusste, dass sie ihn nicht gehen sollte, dass sie eigentlich gar nicht hier sein sollte, aber es konnte ja nichts passieren. Schlimme Dinge passierten nur in dunklen, stürmischen Nächten, nicht in einer Nacht wie dieser, wenn über der gesamten Schöpfung ein seidiger Glanz lag.

7
    Der kleine Weg verlief in Schlangenlinien und wurde immer schmaler, bis er kaum noch zu sehen war. Jede Biegung versprach eine neue Entdeckung und hielt die Versprechung auch. Ein dünner junger Baum, vom Mondlicht versilbert. Tanzende Sterne, die sich in dem steinigen Bach widerspiegelten, der am Rande des zerfurchten Wegs plätscherte. Heute Nacht war nichts mehr normal. Selbst Kuhweiden und umstürzende Zäune sahen aus wie aus einer anderen Welt.
    Und diese Stille! Als wäre mitten im Sommer Schnee gefallen. Das musste etwas zu bedeuten haben. Etwas

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