Die Geschichte eines Sommers
Daddy. Ich hab auch Angst vor ihm, dabei hab ich ihn nur ein Mal gesehen. Was hältst du davon, wenn ich meinen Daddy bitte, mit deinem Daddy zu reden? Mein Daddy ist Prediger. Er sagt ständig irgendwelchen Leuten, dass sie sich ändern sollen.«
»Mein Daddy wird deinen Daddy umbringen«, sagte der Junge.
Swan ließ sich wieder auf die Knie sinken und sah ihn an. Im Mondlicht konnte sie das Gesicht des Jungen deutlich erkennen. Er hatte ein hübsches Gesicht mit zarten hohen Wangenknochen, dichten schwarzen Wimpern und Lippen, die eigentlich voller waren, als sie jetzt aussahen, weil er sie in diesem Moment fest entschlossen zusammenkniff. Der Blick aus seinen schwarzen Augen drang ihr direkt in die Seele. Es waren glühend schwarze Augen. So einen Jungen hatte sie noch nie gesehen.
»Für jemanden, der kaum groß genug ist, um im Stehen zu pinkeln, redest du furchtbar viel vom Töten«, sagte sie.
Doch sie konnte ihn nicht mal beleidigen. Er legte einfach den Kopf zur Seite, um zu zeigen, dass ihm die Worte nichts anhaben konnten. Swan stand wieder auf.
»Geh nach Hause«, sagte sie.
Er rührte sich nicht.
»Geh nach Hause«, flehte sie. Ausgerechnet sie, Swan Lake, die niemals bettelte.
Er rührte sich noch immer nicht.
»Ich geh jetzt jedenfalls«, sagte sie warnend, und das tat sie auch. Schritt für Schritt. Auch wenn sie es hasste. Auf dem Weg nach Hause machte sie sich Sorgen um den Jungen, malte sich aus, was ihm alles zustoßen könnte, fragte sich, ob ihn vielleicht eine Schlange beißen, eine Spinne stechen oder ihn irgendein anderes Tier zum Abendessen verspeisen würde. Und wo würde er schlafen? Würde er ein Loch graben und sich darin zusammenrollen? War er überlebensfähig? Oder würde sein abscheulicher Daddy wütend nach ihm suchen? Und wenn er ihn fand, was würde dann passieren? Was?
Vielleicht sollte sie zurückgehen, den Jungen an die Hand nehmen, ihn zum Haus bringen und seiner Mutter übergeben. Doch Swan hatte das Gefühl, dass auch die Mutter kein großer Schutz für ihn war. Also sollte sie ihn vielleicht besser holen und mit zu sich nach Hause nehmen? Aber so etwas war doch verboten. Das war Kindesentführung, auch wenn der Entführer selbst noch ein Kind war. Swan glaubte zwar nicht, dass sie dafür ins Gefängnis kommen würde, jedenfalls nicht, solange die Polizei noch kostenlos im »Never Closes« trank, aber sie wusste, dass dieser Geschichte kein Happy End beschieden sein würde.
Sie beschloss, sobald sie wieder bei Oma Calla war, ihren Daddy zu bitten, nach dem Jungen zu suchen, ihn nach Hause zu bringen und mit seinen Eltern zu reden. Niemand würde auch nur im Traum daran denken, Samuel Lake umzubringen, und falls doch, dann würde es ihm nicht gelingen. Denn Samuel Lake stand unter dem Schutz Gottes.
Das Schwierigste an diesem Plan war zu erklären, warum sie überhaupt hier draußen gewesen war, doch Swan hatte kolossales Vertrauen in ihre Fähigkeit zu lügen. Und schlimmstenfalls konnte sie immer noch die Wahrheit sagen.
Letztlich musste sie jedoch weder lügen noch die Wahrheit oder sonst was sagen. Sie war fast zu Hause, als sie sich aus irgendeinem Grund umdrehte. Und da war er, der hartnäckige kleine Kerl. Zehn bis zwölf Schritte ging er hinter ihr, lautlos wie ein Indianer.
»Hast du schon einen Plan?«, fragte Willadee Samuel. Sie lagen bereits seit einer Stunde aneinandergekuschelt im Bett. Sie waren vor allen anderen schlafen gegangen, was sie so gut wie nie taten. Denn so verrückt sie auch nach all den Jahren noch immer aufeinander waren, mochten sie ihre Gefühle dennoch nicht so offensichtlich zeigen, indem sie beispielsweise im Schlafzimmer verschwanden, bevor es wirklich Zeit war, ins Bett zu gehen. Diesmal war das jedoch die einzige Möglichkeit für sie gewesen, ungestört miteinander zu reden.
Willadee hatte Samuel von John Moses erzählt und von allem, was an dem Tag passiert war, an dem er starb. Den Abend davor verschwieg sie. Sie sagte sich, dass Samuel auch so schon genug Sorgen hatte. Von dem Bier würde sie ihm später mal erzählen. Vielleicht. Sie sagte ihm auch, dass Calla sich angewöhnt hatte, mitten in der Nacht ins Wohnzimmer hinunterzugehen. Meist hatte sie eins von Johns alten Hemden übergezogen und saß dann stundenlang so da. Als Willadee sie zum ersten Mal so antraf, hatte sie Calla gefragt, ob sie über irgendetwas reden wolle.
»Es ist zu spät zum Reden«, hatte Calla ihr mit trauriger Stimme erklärt. »Ich hatte
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