Die Geschichte eines Sommers
Gutes. Wenn es so hell war, obwohl es doch eigentlich dunkel sein sollte, konnte das nur ein gutes Zeichen sein.
Das waren Swans Gedanken, während sie die letzte Biegung entlangging und das Haus erblickte. Es war eher klein, aus verblichenem Holz gebaut und hatte ein Blechdach. Drinnen brannte Licht, sodass die Fenster golden in der silbrigen Nacht schimmerten. Das Haus war von einem auffallend sauberen Hof umgeben, auf dem etwas Glänzendes stand. Ein Fahrzeug. Ein Kleinlaster. So hell und klar die Nacht auch war, war es dennoch schwierig, seine Farbe zu bestimmen, doch Swan erahnte sie instinktiv: Der Wagen war rot.
Sie hörte ein dumpfes, ächzendes Geräusch wie von jemandem, der in den Magen geboxt wurde, und brauchte eine Sekunde, um zu realisieren, dass sie selbst es war, die das Geräusch von sich gegeben hatte. Sie konnte sich nicht mehr bewegen. Ganz bestimmt war ihr Herz stehen geblieben.
Nur ihr Hirn arbeitete noch fieberhaft. Ihre Gedanken rasten und gaukelten ihr das Unvorstellbare vor. Wenn nun diese kleine Viper von Mann irgendwo da draußen im Dunkeln herumschlich? Wenn er sie genau in diesem Moment beobachtete?
Swan fuhr herum und floh. Stolpernd rannte sie den unebenen Weg zurück. Immer weiter. Sie konnte Ballenger hinter sich spüren, und gleichzeitig schien er vor ihr zu sein. Keine Richtung war mehr sicher. Der Juniwind war sein heißer Atem, das Rascheln der Blätter sein finsteres Raunen. Ein Schlangenmann, der ihren Namen zischte.
Eigentlich hielt sich Swan für jemanden, der auf alles vorbereitet war. Doch darauf war sie ganz sicher nicht vorbereitet gewesen. Und auch nicht auf das, was als Nächstes geschah.
Der Mond verschwand hinter einer dicken Wolke, und die Welt um sie herum wurde dunkel. Plötzlich konnte Swan nicht mehr erkennen, wohin sie trat, und fiel. Es gab nichts, woran sie sich festhalten konnte, um den Sturz zu verhindern oder wenigstens abzumildern. Sie streckte die Arme aus und ließ sie wie Windmühlenflügel kreisen, doch auch das nützte nichts.
Der Sturz schien ewig zu dauern. Sie überschlug sich mehrmals, bis sie schließlich reglos am Boden lag. Sie hatte Angst, sich zu bewegen, weil ihre Hand etwas Weiches und Warmes berührte. Eine andere Hand.
Ihre Augen waren geschlossen und blieben es auch. Sie hatte Angst davor, was sie sehen würde, wenn sie sie öffnete.
»Was ist, bist du tot?«, fragte eine Stimme.
Es war nicht Ballengers. In diesem Moment wäre Swan vor Erleichterung am liebsten gestorben. Sie öffnete die Augen gerade weit genug, um in der Dunkelheit etwas erkennen zu können, dann etwas weiter. Und setzte sich schließlich kerzengerade auf.
Derjenige, der mit ihr sprach, war der Junge. Ballengers kleiner Sohn, der an jenem Tag draußen vor dem Laden geschlagen worden war. Er saß, nur mit einem zerlumpten T-Shirt und einer Unterhose bekleidet, im Graben. Ein dürrer kleiner Bursche, dem die Haare zu Berge standen und der sie mit ernsten Augen betrachtete. Swan unterdrückte ihr Zittern und sah ihn ebenfalls an.
»Was machst du hier draußen?«, fragte sie ihn schließlich.
»Warten.«
»Worauf?«
»Bis es okay ist zurückzugehen.«
»Wohin?«
Der Junge zeigte Richtung Haus.
»Und warum ist es jetzt nicht okay zurückzugehen?«, fragte Swan.
»Darum.«
»Du bist zu klein, um nachts allein draußen zu sein«, sagte Swan. » Warum kannst du nicht wieder hineingehen?«
Der Junge zuckte mit den Schultern. Swan seufzte. Obwohl sie die Antwort zu kennen glaubte, sollte dieser Junge wirklich nicht allein hier draußen sein. Sie selbst konnte auch nicht bei ihm bleiben. Was sollte sie also mit ihm machen?
»Vielleicht solltest du jetzt doch zurückgehen, ich muss nämlich nach Hause«, sagte sie.
Er schüttelte energisch den Kopf.
»Ich kann aber nicht den Babysitter für dich spielen«, sagte Swan.
»Hat auch keiner gesagt, dass du das tun sollst.«
Sie seufzte wieder und stand auf.
»Lass dich nicht von einem Luchs erwischen. Der würde dich glatt in zwei Bissen verputzen.«
»Ich kann Luchse töten«, sagte er.
»Ach ja? Womit denn?«
Er starrte sie schweigend an. Swan wurde allmählich sauer, weil sie wusste, dass sie Ärger bekommen würde, wenn sie nicht bald wieder bei Oma Calla auftauchte. Alle würden nach ihr suchen, und nichts machte Erwachsene so wütend, wie ein Kind wohlauf zu finden, wenn sie furchtbare Angst gehabt hatten, dass es tot sein könnte.
»Hör zu«, sagte sie, »ich nehme an, du hast Angst vor deinem
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