Die Geschichte eines Sommers
umzusetzen. Dafür war Ras viel zu schnell. Jeder Versuch, ihn umzubringen, würde nach hinten losgehen, und dann wäre es ihr Hirn, das auf dem Küchenboden landete.
Im Übrigen war es für ihren Tagtraum gar nicht so wichtig, wie er zu Tode kam, und manchmal redete sie sich auch ein, sie würde nicht mal ernsthaft seinen Tod wünschen . Sie stellte sich einfach nur vor, wie es wäre, wenn es passierte. Es war doch nicht schlimm, darüber nachzudenken, wie das Leben wäre, wenn ein bestimmtes Ereignis eintreten würde.
In ihrer Fantasie sah sie ihn aufgebahrt vor sich liegen. Er wirkte ganz natürlich. Sich selbst sah sie in einem hübschen schwarzen Kleid leise vor sich hin weinen, während Mitglieder der kleinen Kirche des Nazareners, die sie manchmal besuchten, voller Inbrunst sangen und sie zugleich bemitleideten und für den Fall stützten, dass ihre Kräfte versagten. In Wirklichkeit besaß Geraldine gar kein schwarzes Kleid, und sie wusste auch nicht, wie sie eins bekommen sollte, doch das war ja gerade das Gute an Tagträumen. In ihnen musste nicht jedes Detail nachvollziehbar sein. Vielleicht würde eine freundliche Nachbarin ihr ja ein schwarzes Kleid leihen oder – noch besser – ihr eins kaufen. Vielleicht würde Geraldine auch das Versteck finden, wo Ras sein Bargeld aufbewahrte, und die freundliche Nachbarin würde mit ihr in die Stadt fahren, wo sie sich ihr eigenes schwarzes Kleid kaufen könnte. Auch wo sie die stillen Tränen hernehmen sollte, war ihr noch nicht ganz klar, aber sie nahm an, die würden schon von allein kommen. Manchmal bekam sie schon einen verschleierten Blick, wenn sie sich das Szenario nur vorstellte.
»Wär’ wohl zu viel verlangt, dass man in diesem Scheißladen ’nen Kaffee kriegt, was?«, giftete Ras’ Stimme urplötzlich. Geraldine war so tief in ihren Gedanken versunken gewesen, dass sie gar nicht mitbekommen hatte, wie er den Hörer auf die Gabel geknallt hatte und in die Küche geschlendert war. Nun hockte er sich wutschnaubend an den Tisch.
Schlagartig befand sich Geraldine wieder in der Realität. Sie legte das Bügeleisen auf die Seite und hastete zum Herd, um seinen Kaffee zu holen. Natürlich würde er wieder etwas daran auszusetzen haben, weil sie nie etwas richtig machte. Sie gab Milch und Zucker hinzu, reichte ihm die Tasse und wartete darauf zu hören, was diesmal verkehrt sei. Ras nahm einen vorsichtigen Schluck und starrte sie wütend an.
»Was stehst du hier rum und glotzt wie ein mondsüchtiges Kalb?«, wollte er wissen. »Hast du nichts anderes zu tun?«
Also musste zumindest der Kaffee in Ordnung sein. Geraldine ging zum Bügelbrett und machte sich wieder an ihre Arbeit. Ras nippte weiter an seinem Kaffee und starrte wütend vor sich hin.
»Der Dreckskerl meint, er könne einfach hierherkommen«, sagte er.
»Welcher Dreckskerl?«, fragte Geraldine. Man konnte ja nie wissen. Für Ras war jeder ein Dreckskerl.
»Dieses Arschloch von Odell Pritchett.«
Geraldine formte mit den Lippen ein unhörbares »Ah!«, streifte das Hemd, das sie gerade gebügelt hatte, über einen Kleiderbügel und hängte es zu den anderen frisch gebügelten Sachen an die weit geöffnete Hintertür.
»Könnte sein, dass der Dreckskerl schon bald mal nachts ’nen Anruf kriegt«, sagte Ras.
Geraldine wusste, was das bedeutete. Vielleicht würde Odell Pritchett demnächst am Telefon erfahren, dass sein Pferd gestrauchelt war und man ihm den Gnadenschuss hatte versetzen müssen. Oder dass es in ein Loch getreten war, sich ein Bein gebrochen hatte und den Gnadenschuss hatte bekommen müssen, oder dass ihm sonst was passiert war mit dem immer gleichen Ergebnis: Man hatte das Pferd einfach töten müssen. Ras fand immer einen Vorwand, um zu töten.
Er kannte keine Skrupel, Jagdhunde zu töten, die nicht so jagten, wie er es wollte, und er hatte ebenso wenig Skrupel, streunende Katzen zu fangen und sie den Jagdhunden zum Fraß vorzuwerfen. Er vergiftete auch Ratten, aber deswegen konnte einem ja wohl niemand einen Vorwurf machen. Er jagte Eichhörnchen, Rehe und Kaninchen, um sie zu essen, Waschbären, Biber und Füchse wegen ihres Fells sowie Wölfe, Kojoten und Luchse aus dem folgenden noblen Grund: Wenn er sie nicht tötete, würden sie im Gegenzug einem Farmer das Vieh töten. Gürteltiere, Opossums und Skunks tötete er hingegen einfach deshalb, weil sie seiner Meinung nach über keine Daseinsberechtigung verfügten. Das Pferd eines Kunden hatte er allerdings noch nie
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