Die Geschichte eines Sommers
zugucken könnten. So würde Snowman nicht merken, dass sie da waren.
»Sie haben ja keine Ahnung, wie klug dieses Pferd ist«, erklärte ihm Ras. Er erzählte den Besitzern immer, wie klug ihre Tiere seien, weil das alle Besitzer hören wollten. »Sie brauchen nur ’ne Meile bis an mein Grundstück zu kommen, und der Junge wird es riechen. Der ist so klug, der weiß, was ich will, noch bevor ich es ihm sage.«
Die Worte waren Musik in Odell Pritchetts Ohren.
»Sie meinen also wirklich, dass er ein so gutes Pferd ist?«
»Ich übertreibe nicht gern«, sagte Ras, »und hab in meinem Leben schon mit ’ner Menge Pferde gearbeitet, aber dieses überrascht mich immer wieder.«
Letzteres stimmte tatsächlich. Snowman hatte ihn zweimal damit überrascht, dass er ihn abwarf – was nur sehr wenige Pferde je geschafft hatten –, und er hatte ihn schon mehrmals damit überrascht, dass er sich nicht von der Peitsche einschüchtern ließ – was fast alle Pferde taten. Einmal hatte er ihn sogar damit überrascht, dass er sich aufgebäumt und ihn in den Arsch zu treten versucht hatte. Das alles waren Gründe, warum auf Snowmans Flanken jetzt so viele blutige Striemen prangten.
Odell beschwatzte Ras weiter, doch der blieb hart. Er wusste genau, dass es ebenso wichtig war, die Kontrolle über den Besitzer wie über das Pferd zu haben. Und manchmal war Ersteres sogar noch wichtiger, da ein aufmüpfiger Besitzer einem das ganze Geschäft ruinieren konnte, indem er anderen Besitzern gegenüber Dinge ausplauderte, die man nicht ausgeplaudert haben wollte. Die konnten einen regelrecht brotlos machen, und das konnte man sich doch nicht wünschen.
Schließlich sagte Ras: »Mr Pritchett, wenn Sie mir nicht zutrauen, dass ich weiß, was das Beste für Ihr Pferd ist, dann sollten Sie sich besser einen anderen Trainer suchen.«
Damit ging er ein Wagnis ein, aber er war dieses Wagnis schon häufiger eingegangen. Bisher hatte ihn noch niemand beim Wort genommen, und auch diesmal war das nicht anders.
»Aber nein«, protestierte Odell, »ich wollte doch nicht sagen, dass ich Ihrem Urteil nicht traue.«
»Dann hab ich wohl Stimmen gehört«, sagte Ras.
Odell druckste ein bisschen herum, sagte, er wisse doch, dass Ras der beste Trainer in der Gegend sei, und das wisse doch schließlich jeder, er würde halt nur ungern seine kleine Tochter enttäuschen, da sie doch so an Snowman hinge. Ras erwiderte, dass es bestimmt viel schlimmer wäre, wenn das Pferd seine guten Manieren vergessen, das Kind abwerfen und es sich den Hals brechen würde – und zwar nur, weil das Training zum ungünstigsten Zeitpunkt unterbrochen worden war.
»Es ist natürlich Ihre Entscheidung«, sagte er. »Es sind Ihr Pferd und Ihre Tochter, und ich kann Ihnen keine Vorschriften machen. Wenn ich es mir allerdings recht überlege, wäre es wohl am besten, Sie kommen gleich her und holen ihn ab. Dann ist die ganze Sache für mich erledigt.«
Aber natürlich würde Odell sein Pferd nicht abholen kommen, nachdem man ihn dermaßen hatte auflaufen lassen. Er stotterte herum, machte einen Rückzieher und fragte schließlich so demütig, wie es sich gehörte, wie lange Ras denn schätze, dass er noch für Snowman brauchen würde, bis er fertig mit dem Training wäre. Er wolle nichts verkürzen und Ras auch überhaupt nicht drängen, sondern es nur wissen.
»Mitte August«, antwortete Ras unwirsch. »Wie ich es Ihnen von Anfang an gesagt habe.«
Geraldine bügelte mal wieder und war ganz in Gedanken versunken. Wenn man noch vor Sonnenaufgang aufsteht und den ganzen Tag für andere Leute bügelt, um Geld zu verdienen, das man noch nicht einmal zu sehen bekommt, weil man nicht für die Finanzen im Haus zuständig ist, dann muss man sich ja irgendwie ablenken. Wie so oft stellte sich Geraldine auch heute vor, sie würde die Beerdigung ihres Mannes planen. Zwar dachte sie nie so genau darüber nach, wie er sterben und sie zur Witwe machen würde, allerdings wünschte sie sich häufig, dass das Letzte, was Ras auf dieser Welt zu sehen bekam, die Hufe eines Pferdes wären, die wie das Schwert eines Scharfrichters auf ihn niedersausten. Das wäre angemessen.
Manchmal gestattete sie sich für wenige Momente auch die Vorstellung, dass es noch passender wäre, wenn sie selbst ihn mit einer schweren gusseisernen Pfanne erschlagen würde. Seinem kleinen Eierkopf einfach mit dem Ding was überbraten. Allerdings hätte sie nie den Nerv, auch nur zu versuchen, diese Idee in die Tat
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