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Die Geschichte eines Sommers

Die Geschichte eines Sommers

Titel: Die Geschichte eines Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wingfield Jenny
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Schauder über den Rücken. Dass einem ein Pferd gestohlen wird, ist schon schlimm genug, wenn es das eigene ist und seine Haut nicht an etlichen Stellen aufgeplatzt ist. Aber wenn das Tier jemand anderem gehört und man dem Besitzer sein Verschwinden erklären muss und – wenn man es denn wiedergefunden hat – wie es in einen solchen Zustand geraten konnte, dann verkompliziert das die Sache ungemein.
    Ras konnte sich nicht erklären, wie jemand das Grundstück betreten und den Wallach hatte mitnehmen können, ohne dass die Hunde angeschlagen hatten. Die Köter liefen schließlich nicht mit freudig wedelndem Schwanz auf Fremde zu, und alle, die hierherkamen, waren Fremde, weil niemand gebeten wurde, die Ballengers häufiger zu besuchen.
    Allein konnte Snowman es jedenfalls nicht geschafft haben, den Pferch zu verlassen, so viel war mal sicher. Das Tor war normalerweise mit einer Kette festgemacht, die um den Torpfosten geschlungen war, und beide Enden wurden von einem Schnappverschluss zusammengehalten, den man nur mit den Fingern öffnen konnte. Ein kluges Pferd kann es vielleicht schaffen, eine Kette von einem Haken zu heben, aber einen Schnappverschluss zu öffnen? Unmöglich.
    Also musste es jemand anderes getan haben. Die Frage war nur: Wer? Odell Pritchett konnte es nicht gewesen sein. Odell war nicht der Typ, der mitten in der Nacht hier auftauchen würde. Warum sollte er auch? Es war schließlich sein Pferd, und das konnte er auch am helllichten Tag abholen. Und selbst wenn er es gewesen wäre, wäre er mit einem Truck mit Anhänger gekommen, und beides machte Lärm. Natürlich hätte er auch auf der Straße parken, in den Pferch gehen und sein Pferd hinausführen können, aber auch dann blieb noch immer die Frage, warum die Hunde nicht angeschlagen hatten.
    Ras wandte den Blick von dem offenen Tor und dem pferdelosen Pferch ab, drehte sich um und starrte einen Moment lang auf sein Haus.
    Geraldine stand stets noch früher auf als Ras. Wenn der nämlich eines nicht ausstehen konnte, dann war das eine faule Frau. Als sie seine Stiefel über die Veranda scharren hörte, krampfte sich ihr Magen leicht zusammen. Sobald er zur Tür hereinkam, wollte er das Frühstück auf dem Tisch stehen haben, und sie hatte gerade erst angefangen, den Speck zu braten. Seit wann war er in weniger als fünf Minuten mit dem Füttern fertig?
    Es war immer zu spüren, wenn Ras einen Raum betrat, weil sich die Luft jedes Mal seiner Laune anpasste. War er stinkwütend, spürte man die Hitze, die von ihm ausging, und selbst wenn er ganz normal gelaunt war – beziehungsweise was bei ihm so als normal galt –, dann konnte man die Luft vor Spannung knistern hören. Diesmal allerdings schien die Luft plötzlich stillzustehen – was nur äußerst selten vorkam.
    Geraldine wandte ihm den Kopf zu, als Ras hereingeschlendert kam, aber er würdigte sie keines Blickes. Er goss sich einen Becher Kaffee ein, was ebenfalls so gut wie nie vorkam. Wenn sich ein Mann für seine Familie schon den Rücken krumm arbeitet, dann steht es ihm doch wenigstens zu, dass man ihm den Kaffee einschenkt und ihm die Tasse reicht. Das hatte Geraldine ihn schon so oft sagen hören, dass sie den Spruch in- und auswendig kannte.
    Geraldines Eingeweide begannen heftig zu rumoren. Sie war es gewohnt, dass ihr Mann herumstampfte, schimpfte und tobte. Dass er so still und gelassen war wie im Augenblick, das war beunruhigend.
    »Du bist ja so still«, sagte sie. Eigentlich hatte sie den Mund halten wollen, aber sie konnte die Spannung nicht ertragen.
    Ras setzte sich an den Tisch, blies in seinen Kaffee und starrte sie über den Becherrand hinweg an. Seine Augen wirkten beinah sanft.
    »Du auch«, erwiderte er mit heimtückischem Unterton. »Letzte Nacht warst du’s jedenfalls.«
    Sie starrte ihn verständnislos an. Anscheinend hatte sie etwas falsch gemacht, von dem sie keine Ahnung hatte.
    »Kann mich nicht erinnern, dass ich letzte Nacht still war.«
    »Natürlich warst du das. Still und leise wie eine kleine Maus.« Er ließ seine Fingerspitzen lautlos über die Tischplatte trippeln wie eine kleine Maus, die immer wieder die Richtung wechselte. Zickzack, zickzack. Hin und zurück. Eine sehr geschäftige kleine Maus.
    Geraldine versuchte sich zu erinnern, ob sie letzte Nacht besonders still gewesen war. Hatte Ras sie angesprochen, und sie hatte ihm nicht geantwortet? War sie an ihm vorbeigegangen, ohne etwas zu sagen, obwohl er gewollt hatte, dass sie ihn ansprach?

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